Rezension

Die Edda

Wer kennt nicht die singenden und kämpfenden Zwerge dieser Erzählung? Bifor, Bofur und der dicke Bombur, die Brüder Kili und Fili und natürlich Thorin.

Richtig erkannt, es geht selbstverständlich um die Edda und nicht um die „Mittelerde-Trilogie“ Tolkiens, der die Namen klammheimlich aus der nordischen Mythologie übernahm. Heute kennen nur noch die wenigsten die Schöpfungsgeschichte aus vorchristlicher Zeit. Meist sind dies Anhänger zersplitterter Naturreligionen, die schnell ins Esoterische umschlagen, oder schreiende Metal-Fans, die nach zwei Litern Met Odin und Thor huldigen, sich anschließend übergeben und auf der Bierbank einschlafen. Doch die Edda bietet mehr.

Die Lieder-Edda und die Prosa-Edda

Wie alt die Saga über die Schöpfung der Welt, die alten Götter, Riesen und Zwerge ist, kann heute niemand mehr genau beantworten. Die Schrift, als Zeichen einer Hochkultur, hat nördlich des römischen Reiches erst spät Einzug gehalten, weshalb die erste Verschriftlichung erst aus dem 13. Jahrhundert stammt. Vermutlich gab es die mündlich weitergegebenen Geschichten, in Form von Vorträgen, Gesängen und Gedichten durch die Barden bereits deutlich früher.

Die erste Überlieferung der sogenannten älteren Edda, oder Lieder-Edda, ist der „Codex Regius“. In fast 40 Kapiteln, je nach Zählweise schwankt die genaue Anzahl, wird die Entstehung der Welt aus dem Chaos (wohlgemerkt nicht aus dem Nichts), das Leben und Wirken der Asen und der Menschen, der Zwerge und der Riesen auf dem Weltenbaum Yggdrasil erzählt. Während es in der ersten „Erzählung“ einzig allein um die Erschaffung der Welt und der abschließenden Götterdämmerung (Ragnarök) mit dem Untergang der Welt dreht, zeigen die weiteren Kapitel verschiedene Ausschnitte aus dem Leben der Götter, Helden und Menschen.

Die sogenannte jüngere Edda, oder Snorra-Edda, benannt nach dem Barden Snorri Sturluson, der die Sagen in Romanform verschriftlichte, entstand im Auftrag eines großen Jarls, also eines germanischen, lokalen Regenten. Doch große Unterschiede existieren nicht und es liegt im persönlichen Geschmack des Lesers, welche Darstellungsform er bevorzugt. Differenzen gibt es nur in einigen Feinheiten oder Wortlauten, worüber sich natürlich Theologen und Historiker freuen konnten, die sich hauptsächlich im ausgehenden 19. und jungen 20. Jahrhundert, auf die Exegese dieser Schriften stürzten. Die geläufigste heutige Übersetzung stammt von Karl Simrock aus dem Jahr 1851. Da beide Edda-Überlieferungen aus dem Altisländischen stammen, das an Anspruch dem Neuisländischen in nichts nachsteht, liegen nur wenige taugliche und anerkannte Übersetzungen vor.

Zwischen Schicksal, Saga und wettenden Göttern

Ein bedeutender Unterschied der nordischen Religion im Vergleich zu den Offenbarungsreligionen, aber auch anderer polytheistischer Glaubensarten, ist die fehlende Souveränität der Götter, die die Schriften durchaus unterhaltsam erscheinen lassen. Sei es Thor der Menschenfreund, der sich dazu überreden lässt, als Braut verkleidet, seinen von einem Riesen gestohlenen Hammer zurückzuholen, oder Odin, der zwar über die Menschenwelt wacht, aber sich immer wieder zu aberwitzigen Wetten hinreißen lässt.  Auch schön zu lesen sind die andauernden Streitereien des „bösen“ Gottes Loki mit den Asen, bei denen er wildeste Anschuldigungen und Beleidigungen erfindet um diese gegeneinander und gegen sich selbst aufzubringen:

Schweig doch, Freyja!
Eine Frevlerin bist du
und mit Argem angefüllt:
da beim Bruder dich ertappten
die trauten Gebieter,
da entwich dir wohl ein Wind.

Neben den herben Zankreden Lokis ist seine Rolle in anderen Episoden häufig unklar, die Motive undeutlich. Mal spielt er den perfekten Schurken, an anderen Stellen kann man seine Handlungen nachvollziehen und wird zum Nachdenken angehalten.

Ebenso spannend ist das Rätselraten zwischen Göttervater Odin und Wala, die sich gegenseitig übertrumpfen wollen oder die vermutlich bekannteste Sage, in der Thor mit dem Fischer Hymir die Midgardschlange fängt, aber entkommen lässt. So gibt es eigentlich weder einen roten Faden, noch ein klares Konzept, wodurch man zum einen die verschiedene Herkunft der Geschichten erkennt, zum anderen den volkstümlichen Charakter von Sagen, die sich über die Jahrhunderte bildeten, veränderten und erst viel später niedergeschrieben wurden.

Auch ist ein Vergleich zwischen der Edda und den monotheistischen Buchreligionen, wenn überhaupt, nur schwerlich möglich. In der Edda vermischt sich ein religiöser Glaube, der durch einen „lockeren“, chaotischen Götterbegriff auch das Unheil und die Katastrophen des alltäglichen Lebens ohne geistige Verrenkungen erklären kann, mit unterhaltsamen Sagen, die eher zu einem entspannten Lagerfeuerabend passen. Dadurch entsteht eine schicksalhafte Symbiose aus alltäglichen Geschichten und Erklärungen des Unbekannten, die nicht nur die Menschen vor 1.000 Jahren in ihren Bann gezogen hat, sondern auch noch heute einen ganz eigenen Charme vorweist.

Donarstag und Freytag – Das Heidentum als Kulturgut

Mag sich die Edda wie ein Relikt vergangener Urzeiten anhören oder lesen, so ragt sie doch mehr, als man denkt, in die christlich geprägte Kultur des nordeuropäischen Abendlandes hinein. Stark umstritten sind die Ursprünge der Feiertage und Feste. So liegt Weihnachten laut manchen Historikern nicht zufällig nahe der Wintersonnenwende und auch der immergrüne Tannenbaum könnte vorchristlicher Symbolik entsprungen sein. Doch solche Fragen können nie zur Gänze geklärt werden. So gibt es zu den meisten Feierlichkeiten germanische, christliche oder sogar antike Ansätze, die die Herkunft und Beeinflussung des Tages für sich beanspruchen. Am deutlichsten erkennt man die nordischen Einflüsse auf die Walpurgisnacht. Zwar entstammt der Name der heiligen „Walburga“, einer englischen Äbtissin, allerdings sind die typisch regionalen Brauchtümer wie Maifeier, Maibaum oder das „Walpern“ der Kinder in der Hexennacht vorchristlichen Ursprungs.

Etwas deutlicher wird es bei den Namen der Wochentage in den germanischen Sprachen. Während der Montag der lateinischen Göttin des Mondes gewidmet ist, ist der Dienstag ein Produkt des latinisierten „Mars Thingus“, die römische Variante des Tyrs, dem germanischen Gott des Krieges. Auch hier ist unbekannt, wer wen beeinflusste. Bei der Mitte der Woche setzten sich, zumindest im Deutschen, die christlichen Einflüsse wieder durch und verbannten Odin und die mythologische Bedeutung in die nördlichen Sprachräume: Englisch: Wednesday; Niederländisch: Woensdag, beziehen sich noch immer auf Wodan, ein anderer Name für Odin.

Klarer wird der Fall dann am Donnerstag, der, ebenso wie im englischen, Donar (Thor) dem Donnergott gewidmet war. Die Franzosen beriefen sich, als Mitglied der romanischen Sprachfamilie, auf ihre lateinischen Wurzeln. „Jeudi“ (Donnerstag), kommt vom jovis dies, dem Tag Jupiters, der das römische Pendant zu Thor bildete.

Auch beim Freitag ist klar der Bezug zu Freya oder Frija zu erkennen, den Göttinnen der Ehe und der Liebe. Die romanischen Sprachen berufen sich hier auf die Venus, die römische Göttin der Liebe: Im französischen vendredi, italienisch venerdi. Man erkennt, dass selbst innerhalb enger Sprachfamilien deutliche Unterschiede bei den Wochentagen existieren. Warum manche Tage den heidnischen Namen, andere den römischen beibehielten, ist umstritten und kaum erforscht. Man kann dieses Faktum stellvertretend für den unklaren Einfluss des heidnischen Glaubens auf überlieferte Elemente deuten.

Die Edda in der heutigen Zeit

Die verschiedensten Fassungen der Edda gibt es spottbillig im Internet oder in jedem gutsortierten Buchladen. Selbst wenn man in keiner Weise mythologisch angehaucht ist, sollte man einen Blick in die vorchristliche Religion wagen. Dem aufmerksamen Leser fallen viele Parabeln auf, die sich auf das eigene Leben oder die heutige Gesamtsituation anwenden lassen. So war zum Beispiel eine Vorbedingung von Ragnarök, der Endzeit, der Zerfall der familiären Bande, wie im Kommentar eines bekannten Herausgebers, Gustav Neckel, beschrieben wird: „Einstweilen malen die Strophen 45 und 46 die Auflösung der Sippenbande und die sonstige Verwilderung aus, die unter den Menschen als Vorboten des jüngsten Tages (Ragnarök) eintreten.“

Insgesamt erfährt man in der Edda eine bunte Mischung aus witzigen oder spannenden Erzählungen, nachdenklichen Passagen und versteckte, hintersinnige Handlungsanweisungen. Allein aus diesem Blickwinkel ist sie der Bibel überlegen, die bekanntlich mit der Holzhammermethode  versucht den ungehörigen Schäfchen Benehmen einzubläuen, wie beispielsweise die zehn Gebote zeigen: „Du sollst nicht stehlen.“

Doch wichtiger als Lesespaß oder Glaubensexegese ist ein anderes Faktum: Die Edda ist die überlieferte Brücke zur abendländischen, fast vergessenen Frühkultur und war wichtiger Bestandteil des Lebens unserer Vorfahren. Allein das Wissen über deren Denken, Glauben und Lebensweise ist von unschätzbarem Wert. Eine bedeutende Rolle in der Verbreitung der nordischen Mythologie und des kollektiven Gedächtnis an die heidnische Welt war die dreitägige Oper Richard Wagners Der Ring der Nibelungen, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch über das Dritte Reich hinaus, die germanische Götterwelt einem breiteren Publikum zugänglich machte.

Doch mittlerweile kann Musik politisch unkorrekt sein und gerade Hitlers Leidenschaft zu Wagner navigiert dessen Werke im 21. Jahrhundert ins Abseits. Darunter auch die Vertonung der Edda. Doch gerade in Zeiten des christlichen Zerfalls, des Verlustes abendländischer Werte und Moral und dem Bröckeln der kirchlichen Macht und Legitimität, könnte ein solch traditionsreicher Glaube das postmoderne, geistige Vakuum der suchenden Menschen füllen. Ob die Edda dazu geeignet ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

(Bild: Thorsten, flickr, CC BY-ND 2.0)

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