Gesichtet

Falsche und richtige Nächstenliebe

Die Besinnlichkeit der Weihnachtszeit leitet unser Augenmerk von materiellen Interessen zu den höheren Gütern der Menschheit: Großzügigkeit und Nächstenliebe stehen ganz oben auf der Tagesordnung, uns anzutreiben, dem Mitmenschen Gutes zu tun.

Die zu einer materialistisch-mechanisch geübten Solidaritätsbekundung degenerierte Nächstenliebe gehört dabei ganz zweifellos dem Reich der Wirrnisse an. Überhaupt das Meiste, was heutzutage für großzügig gilt, ergibt sich aus falsch verstandener Nächstenliebe. Von vornherein herrscht Unklarheit darüber, wer „mein Nächster“ und was „Liebe“ ist.

Nächstenliebe geht vom Herzen aus

Zumindest sollte klar sein, dass Großzügigkeit und Nächstenliebe primär keine Verstandesangelegenheit, sondern eine Angelegenheit des Herzens sind. „Herz“ ist dasjenige Kraftzentrum, von dem der Trieb ausgeht, anderen Menschen Gutes zu tun. Trotzdem es sich nach dieser Bestimmung ganz eindeutig um eine Herzensangelegenheit handelt, ist die Unterstützung durch den Verstand unentbehrlich. Keine „gute Tat“ ist als solche zu qualifizieren, wenn sie aus Unverstand, Schwachsinnigkeit, Irrsinn, reinem Trieb („Helfersyndrom“) oder Willkür getan worden ist.

Das bedeutet aber, dass jedem Erfahrungsbereich, sowohl dem des Herzens wie dem des Verstandes, auch das gegeben wird, was ihm gebührt. „Herz“ steht deshalb für ein sinnlich-übersinnliches Zentrum unserer Persönlichkeit, welches seine Energie aus der Nähe, Innigkeit und Tiefe der Erfahrung von Liebe bezieht. Handelt es sich dann auch tatsächlich, worum es sich bei echten Herzensangelegenheiten eben handeln muss, um die direkte Erfahrung von Liebe, so irrt das Herz nicht in seiner ihm eigenen Rolle als Kraftgeber.

Humanitätsduselei ist das Resultat einer verworrenen Nächstenliebe

Das noch nicht humanitaristisch verdorbene Herz schüttet seinen Gefühlsreichtum spontan aus. Dabei steht ihm der Verstand unterstützend zur Seite: die Unterstützung durch den Verstand soll verhindern, dass Großzügigkeit falsch geübt werde – als Freigiebigkeit nämlich – oder aber, dass Nächstenliebe an den oder die falschen „Nächsten“ – das sind immer die nicht unmittelbaren „Nächsten“ – verschwendet wird. Ein Gleichgewicht kann hier nur erreicht werden, wenn den Empfindungen, die vom Herzen ausgehen, auch ein gesundes Gerechtigkeitsempfinden entspricht, und dazu bedarf es eben des Verstands. Fehlt der Verstand oder ist er verwirrt, wird das ganze Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit selbst wiederum wirr: Es kommt zu den bekannten, ganz ungesunden Erscheinungen von angeblicher Großzügigkeit und Nächstenliebe, wie sie typisch sind für diese besonders besinnlichen Tagen der Weihnachtszeit.

„Freigiebigkeit“ gilt fälschlicherweise als Großzügigkeit

Die Verdrängung echter Großzügigkeit durch das Spendenwesen ist ein Fall von Verwirrung. Aus dem Begriff „Spende“ geht ganz klar hervor, dass es sich nicht um Großzügigkeit und Nächstenliebe, sondern nur um irgendeine Art von Freigiebigkeit handelt. Ein Bier spendieren – „einen ausgeben“ –, Organe spenden, Geld spenden, Sach- und sonstige (Hilfe)-Leistungen, können moralisch qualifiziert sein, als Gabe und Dienst am Nächsten. An sich stellen sie aber noch keine moralische Qualifikation dar.

Und, wo wir schon vom Herzen reden: das höchste, dem modernen Menschen überhaupt fassbare Beispiel von Großzügigkeit, die Organspende, ist oftmals eben nicht motiviert aus selbstloser Nächstenliebe. Ein zumeist anonymer „Spender“ verfügt, dass ihm nach seinem Tode Organe und andere brauchbare Gewebsteile entnommen werden, damit andere, ihm normalerweise unbekannte Menschen besser bzw. überhaupt leben können. Aber, allein schon der Sachverhalt der Anonymität, d.h. die Unbekanntheit und Unsichtbarkeit, sowie die Tatsache, dass der „Spender“ sich von Anfang an etwas „dabei gedacht“ hat, zeigt, wie wenig das „Herz“ dabei im Spiel war. Über eine gütig getätigte, freigiebige Nützlichkeitserwägung kommt eine solche „Großzügigkeit“ nicht hinaus.

Nicht „ethischer Liberalismus“ sondern Liberalismus in der Ethik

Gerade bei der Organspende wird klar, dass es bei ihr fast so gut wie nie ohne Hintergedanken zugeht. Ihr Vordersatz lautet für gewöhnlich: man selbst oder eine einem liebe Person könnte eines Tages eine solche Großzügigkeit und Spende, d.h. ein Organ, benötigen. Also ist es nur recht und billig, dass da einer vorauseilend bzw. zuvorkommend zurückgibt (!), was er für sich selbst oder die Seinen benötigt haben könnte.

Persönliche Ängste, allem voran bangen um die eigene Haut und die der Seinen, sowie alle Vorstellungskraft, die nötig ist, „sich selbst“ im diffusen „Andern“, sowie den „Andern“ im diffusen „Selbst“ zu sehen – das ist ja die Verwirrung! –, werden angefacht, den Menschen, besonders in Hinsicht auf seine Innereien, freigiebig zu machen. Freigiebigkeit ist hier aber kein Bedürfnis des Herzens, sondern eine Reaktion auf äußere Einflüsse, wie sie z.B. hier die Begehrnis der Umgebung ist. Diese Reaktion ist zudem noch unwesentlich: die ihr zugrunde liegende Absicht ist objektiv, einzig und allein die, dass „Leben rettende Organe“ „frei“ vergeben werden. Der Tote braucht sie ja nicht mehr!

Schade wäre es deshalb und auch ungerecht, sie andern, die sie zum Leben nötig haben, vorzuenthalten – hier gesellt sich zum herzlosesten Nützlichkeitsdenken noch ein entgeltendes Rechtsempfinden, welches sich aus einem wirtschaftlichen Verständnis von Gerechtigkeit ergibt. Alles ist hier im Sinne des Smithschen Freihandels durchdacht worden. Nicht ein ethischer Liberalismus, sondern die Verworrenheit eines Liberalismus in der Ethik kommt auf die Idee, Freihandel für Nächstenliebe sowie ein simples soziales Tauschgeschäft für einen Akt der Großzügigkeit zu halten. Gegen José Ortega y Gasset muss deshalb gesagt werden: der Liberalismus ist ethisch eben nicht „äußerste Großmut“, er ist nicht „die edelste Losung, die auf dem Planeten erklungen ist“.

 „Altruismus“ schließt den Eigennutz und auch die Gleichgültigkeit nicht aus

Ist der Liberalismus, wie bei unseren sentimentaleren Zeitgenossen, ein ethischer, darf der Eigennutz auch nur in altruistischer Einkleidung vor die Tür. „Ethische Einwände“, „gesunder Menschenverstand“, überhaupt ein Rest von vorliberalem Anstand, verbieten, dass man sich vollkommen im Eigennutz gehen lässt. Von Hause aus aber bleibt dieser Liberalismus in der Ethik jedoch, was er ist, ein Eigennutz. Ihn irgendwie in die Nähe von wahrer Großzügigkeit und Nächstenliebe bringen zu wollen, ist eine Tollheit.

Und wenn nun doch anderweitige Liebesempfindungen – Anwandlungen der Liebe – diesen Eigennutz im altruistischen Sinne beugen sollten, so handelt es sich eben doch nur um schnöden „Altruismus“: eine Selbstlosigkeit, die sich in einer gegenstandslosen „allgemeinen Menschenliebe“ ergeht. Die Charakteristika von Selbst- und zugleich Gegenstandslosigkeit bedeuten: Weder mit sich selbst noch mit konkreten Menschen etwas anzufangen wissen. Beim „Altruismus“ kann es deshalb durchaus wie folgt zugehen: Ich spreche nicht mit dem Nachbarn, bin mit meiner Familie zerstritten, überhaupt die Menschen, die mir räumlich und auch vom Wesen her am nächsten stehen, also die, die mir eigentlich am Herzen liegen müssten, sind mir gleichgültig – aber wenn ich Spendenaufrufe im Fernsehen sehe, oder über ein x-beliebiges Medium etwas vom Leiden in der Welt erfahre oder mir sonst wie die Not von „Menschen“ vor Augen geführt wird, dann denke ich an all diese Andern und helfe, indem ich z.B. Geld spende.

Geld, überhaupt das Korrosiv von Nähe und Herzlichkeit, ist, dank der Technologie, so einfach wie nie zuvor zu spenden: man braucht wirklich nicht „über das Herz“ zu bringen, ein paar Knöpfe gedrückt, oder die Finger auf dem Bildschirmchen bewegen, und das war´s schon. „Gutes tun“ ist inzwischen so einfach wie einkaufen. An diesen rein materiell guten Taten mag sich dann eine herz- und gedankenlose, konsumistische oder humanitaristische  Hypermoral erwärmen.

Das klassische Beispiel christlicher Nächstenliebe: der Heilige Martin

Die Gabe des Heiligen Martin von Tours zeigt etwas ganz anderes als die geschilderten Wirrnisse: Bewegt und durchdrungen von Gottes Liebe zu den Menschen, teilt er seinen Mantel mit dem in der Kälte liegenden nackten Bettler –  der Heilige Martin war hier nicht freigiebig mit einem Mantel, den er selbst gar nicht nötig hatte. Auch tat er seine gute Tat nicht aus, sondern mit Besonnenheit, d.h. mit Verstand. Seiner Tat lag die Liebe Gottes zugrunde, sie bewegte ihn und öffnete ihm die Augen für die Not des armen Mannes.

Besonnen war dabei seine Handlung, seinen eigenen Mantel, den er selbst sehr wohl nötig hatte, zu teilen. Ethisch ist dieses Bild der klassischen christlichen Liebestat genauso einwandfrei wie unübertroffen: der Heilige Martin hatte keinen Mantel zuviel dabei, den er doch ruhig hätte abgeben können. Auch stellte er keine Ansprüche auf Mäntel, die ihm gar nicht gehörten, um sie „freizugeben“. Der heute unverstandene Hauptpunkt ist und bleibt die göttliche Liebe, die ihn geradezu überwältigte bei seiner persönlichen Begegnung mit dem Bettler. Der Bettler war dem Heiligen Martin wirklich und wahrhaftig sein Nächster.

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