Gesichtet

Herr Präsident, wie tickt Merkel?

Am 19. Oktober sprach der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus in Dresden über sein aktuelles Buch „Völkerwanderung“. Die Fragen stellte der Schriftsteller Michael Klonovsky.

Bis zum heutigen Tag ist unklar, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel vor etwas mehr als einem Jahr auf einmal den Einwanderungsturbo einlegte. Weil dies weder mit humanitärer Hilfe noch einem angeblichen Fachkräftemangel zufriedenstellend zu erklären ist, gibt es die abenteuerlichsten Theorien über die wahren Gründe. Ist Merkel nur eine Marionette, die von geheimen Mächten gesteuert wird? Halten die USA die Migrationswaffe auf uns, um einen wirtschaftlichen Konkurrenten zu eliminieren? Oder hat die „Königin der Schlepper“ (COMPACT-Magazin) irgendein Interesse, die Islamisierung zu beschleunigen?

Vieraugengespräch mit Merkel: Von Staatsmann zu Staatsverwalterin

Wir alle können darüber nur wüste Spekulationen anstellen. Václav Klaus dagegen, der über zwanzig Jahre lang die tschechische Politik mitprägte, hat mit Merkel schon stundenlang unter vier Augen von Staatsmann zu Staatsverwalterin gesprochen und sie mit all den Fragen konfrontiert, die jeder gern einmal stellen würde. Wie tickt Merkel also, wollte gestern abend in Dresden dann auch Michael Klonovsky von Klaus erfahren. Seine Antwort: „Sie lebt in einer anderen Welt.“

Klaus überzeugte bei seinem Vortrag und der sich anschließenden Diskussion mit großer Sachlichkeit und dem Vermögen, die Dinge so einfach, wie sie sind, darzustellen, statt auf den allgemeinen Erklärungsnotstand mit abstrusen Theorien zu reagieren. Ihm zufolge stehen sich in Europa zwei Lager gegenüber: Das eine will Freiheit, Souveränität, Patriotismus und einen interkulturellen Austausch auf individueller Ebene. Zu diesem Lager zählt Klaus sich selbst und mit Abstrichen jene osteuropäischen Nationalstaaten, die sich der Umverteilung von Einwanderern gegenwärtig widersetzen.

Klaus: Ziel ist der „neue europäische Mensch“

Das andere Lager würden die Anhänger von Merkel, Juncker und Martin Schulz bilden, die sich für eine europäische Zentralisierung, Multikulti, politische Korrektheit und Kulturmarxismus einsetzen. Es handle sich dabei um ein autistisches und arrogantes Lager, das aber die „wirkungsvollere Artillerie“ zur Verfügung habe. Ziel dieser Machtelite sei es, einen „neuen europäischen Menschen“ zu schaffen, zu dem jederzeit auch Migranten werden könnten.

Dieses „Neue Europa“ hält Klaus für eine gefährliche Utopie. Er geht davon aus, daß eine Fortsetzung der Massenmigration Europa auch ohne Terrorismus zerstört. Der Terror sei allerdings ein „unvermeidlicher Bestandteil“ der Massenmigration. Die europäische Politik trage dafür die Verantwortung, weil sie die Migranten regelrecht angeworben habe. Klaus unterscheidet hier nach Angebot und Nachfrage. Unzweifelhaft sei das Angebot an Migranten im Erweiterten Mittleren Osten und Afrika sehr groß. Dies spiele solange keine Rolle, wie keine Nachfrage nach ihnen besteht. Obwohl in Europa 23 Millionen Arbeitslose leben, betont die Machtelite jedoch immer wieder, Europa bräuchte einige Millionen neue „Fachkräfte“ von außerhalb Europas.

Wer profitiert von der Völkerwanderung?

Nachvollziehbarerweise wollte Klonovsky nun wissen, wer denn von dieser bewußt ausgelösten Völkerwanderung profitiere? Klaus hielt dies anscheinend für eine falsch gestellte Frage. Er glaubt nicht an die Theorie, wonach die heimlichen Profiteure der Masseneinwanderung die Regierung beeinflußt haben und sich nun die Hände reiben. Es sei „falsches Denken“ sowie der „Glaube an Multikulti“ und den „Europäismus“, der Merkel so habe handeln lassen.

Klonovsky bohrte mehrmals nach, um Klaus etwas zu den „wahren Hintergründen“ zu entlocken, aber all diese Versuche waren vergebens. Während Klonovsky als tiefenpsychologische Ursache für die Asylkrise einen spezifisch deutschen „Fundamentalismus seit 1918“ ausmachte, der es mit allen Ideologien übertreibe, wies Klaus diese Vermutung genauso wie alle anderen zurück. In den Bahnhofsklatschern von München sieht der ehemalige tschechische Präsident im Gegensatz zu Klonovsky nicht den Übermut eines seltsamen Massenwahns, sondern schlichtweg den üblichen Opportunismus. Die Münchner „Refugees Welcome“-Fraktion sei identisch mit den „sozialistischen Klatschern“ von früher, betonte Klaus.

Pragmatische Politiker denken nicht über die Geschichte nach

Vermutlich liegt diese Zurückhaltung bei der Ursachenerforschung am Wesen des Politischen, das Klaus verinnerlicht hat. Seine Herangehensweise besteht darin, die Lage zu analysieren, den politischen Feind zu bestimmen und sich dann in die Schlacht zu stürzen. Die Suche nach geheimen Netzwerken und das geisteswissenschaftliche Ergründen historischer Langzeitwirkungen auf das Bewußtsein von Politikern und Völkern stehen ihm dabei nur im Wege.

Der entscheidende Punkt ist nun folgender: Wenn der Politiker Václav Klaus so pragmatisch denkt, dann dürfte dies auf Angela Merkel erst recht zutreffen. Es ist deshalb zum einen vollkommen ausgeschlossen, dass sie stundenlang am Fenster hockt und sich überlegt, wie sie ihrem eigenen Volk am meisten schaden könnte. Zum anderen wird sie aber auch die offiziell vorgebrachten Argumente, die Flüchtlingsaufnahme sei humanitäre Hilfe und diene der Bekämpfung des Fachkräftemangels, nicht durchdacht haben.

Die Entwicklung des falschen Denkens in Deutschland

Sie weiß einfach, auf welcher Seite sie steht und wie sie deshalb handeln muß. Auf ihre Berater trifft dies gleichermaßen zu. In seinem Gespräch über die Macht (1954) schrieb Carl Schmitt einst: „Der Kampf um den Korridor, um den Zugang zur Machtspitze, ist ein besonders intensiver Machtkampf, durch den sich die innere Dialektik von menschlicher Macht und Ohnmacht vollzieht.“ Da es heutzutage nur die Zeitgeisthörigen und linksliberalen, globalen Eliten bis auf den Korridor der Kanzlerin schaffen, ist von Vornherein klar, in welche Richtung ihre Politik geht. Der Zugang zum Machthaber wird damit zugleich entwertet, weil sowieso nur Berater ins Kanzleramt dürfen, die alle einer Meinung sind und sich gegenseitig bestätigen.

Es ist also tatsächlich „falsches Denken“, das die Asylkrise auslöste. Dieses Denken ist aber nicht das Ergebnis einer tiefgründigen Reflexion oder Beeinflussung durch Einzelne. Vielmehr hat sich die Machtelite über Jahrzehnte diesem Denken angepaßt und sich von Amerikanern und 68ern umerziehen lassen, so daß heute gar keine geheimen Netzwerke mehr nötig sind, um die Regierung auf Linie zu bringen.

Die Machtelite hat sich so seit vielen Jahren in einer Blase eingerichtet, die unzerstörbar schien. Aufgrund anhaltender Realitätsverweigerung nehmen jetzt jedoch die Nadelstiche von außen zu. Der politische Instinkt von Václav Klaus sagt ihm, was der einzige Weg ist, diese Blase aufzustechen. Das geht nur mit politischem Kampf, der sich auf das Wesentliche konzentriert und die Detailfragen beiseite läßt. Diese kann man den Intellektuellen überlassen, die sich mit ihrer Ohnmacht bereits abgefunden haben. Aufgrund der dadurch gewonnenen Unabhängigkeit können sie allerdings die trotzdem nötige Wahrheitssuche um so intensiver betreiben.

Hier geht es zum Buch von Václav Klaus: Völkerwanderung. Kurze Erläuterung der aktuellen Migrationskrise. 96 S., 12,80 Euro. Manuscriptum.

(Bild: Václav Klaus, von: Peter Stracina, flickr, CC BY 2.0)

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