Gesichtet

Naturrecht und moderner Staat

Als Geschöpfen jetziger, rein innerweltlicher öffentlich-rechtlicher Verhältnisse klingt den meisten Menschen „Naturrecht“ fremd und unverständlich.

Eine, wenn auch noch so lückenhafte Kenntnis des Naturrechts kann heutzutage nicht mehr vorausgesetzt werden. Zusammen mit dieser ist aber auch das Bewusstsein der  Bedeutung des Naturrechts für das menschliche Zusammenleben überhaupt verschwunden. Dabei wäre ein naturrechtliches Bewusstsein dem rechten Bürgersinn förderlich in dem Sinne, dass es erlaubt, den modernen Staat aus einer gehörigen Distanz und mit richtigem Kriterium zu beurteilen. Die erste Einsicht einer naturrechtlichen Urteilsweise wäre dann: mit der fortschreitenden „positiven“ Legalisierung als juridischer Selbstrechtfertigungspraxis hat sich der moderne Staat eine eigene, vom Naturrecht radikal verschiedene Basis verschafft.

Das göttliche Naturrecht

Die Daseinsberechtigung eines Gemeinwesens ist der ihm innewohnende Sinn: außer Schutz nach außen und innen sowie Gerichtsbarkeit gehört dazu, dass der ihm angehörige Bürger seinen ihm eigentümlichen und doch mit dem Gemeinwohl im Einklang stehenden irdischen Endzweck erreichen kann: die Vollkommenheit als Bürger und Mensch.

Darauf, und auf nichts anderes, läuft die aristotelische Bestimmung des Menschen als eines „politischen Tieres“ hinaus. Selbst der dem Menschen eigene Logos, also Sprache und Vernunftvermögen, entfaltet seine Wirkung nur im geselligen Zustand unter Menschen – das ist der Kern des von Platon und Aristoteles ausgehenden göttlichen Naturrechts, von nun an kurz „Naturrecht“ genannt.

Endzweck Ausbildung der Persönlichkeit

Das sittliche „gute Leben“ der Einzelnen ist die unentbehrliche Vorrausetzung dafür, dass dieser gesellige Zustand als ein allgemein verbindlicher auch tatsächlich zur Wirklichkeit gelangt. Von Seiten der politischen Gemeinschaft kommt als weitere Voraussetzung die Gerechtigkeit hinzu. Idealerweise ist das Individuum durchdrungen von der Gerechtigkeit des Gemeinwesens, wie sich auch die Sittlichkeit der Einzelnen auf das Gemeinwesen überträgt.

Sittlichkeit und Gerechtigkeit bezeichnen das wesentliche Verhältnis von Einzelnem und politischer Gemeinschaft zueinander. Nur die richtige, wesensgemäße Eingliederung des Bürgers in einem guten Staatswesen öffnet beiden den Weg zur Vollkommenheit: Einheit und Ganzheit, Persönlichkeit des einzelnen Menschen sowie Einheit und Ganzheit, und damit ebenfalls Persönlichkeit, des Gemeinwesens. Die Herstellung des geselligen Zustands zum Zwecke dieser höchsten Vollkommenheit im Ganzen ist der eigentliche Nutzen der Verbindung der Menschen untereinander.

Gemeinwohl als Grundsatz sinnhafter Rechtmäßigkeit

Die göttliche Absicht des Naturrechts ist hiermit klar ausgesprochen: es ist das seiner Natur entsprechende Wohl des Menschen, die zur Erreichung dieses Wohls notwendige Errichtung des Gemeinwesen, einer Ordnung, sowie all die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendigen Handlungen. Gemäß dieser Auffassung ist ein Staat legitim, insoweit die von Gott gesetzte natürliche Ordnung in ihm zum Tragen kommt. Ein Staat ist selbstverständlich immer „souverän“, ist immer Herrschaft.

Legitim ist diese Herrschaft aber nur, wenn sie die für das Zusammenleben notwendigen politischen und gesellschaftlichen Verrichtungen, die seiner ursprünglichen Begründung zugrunde lagen, immer noch leistet. Es handelt sich hierbei eindeutig um eine Legitimität, die nicht von historischen Herrschaftsansprüchen, faktischer Machthabe („Gewalt“) und auch nicht von einer tatsächlich bestehenden „positiven“, rein menschlichen und innerweltlichen Rechtsordnung – der „Idee des Rechtsstaates“ –, sondern von natürlichen Sacherfordernissen ausgeht. In ihr ist der Staat Funktion innerhalb eines göttlichen Weltplans, so dass ein „Selbstzweck“ oder ein „Rechtszweck“ des Staates, die beide auf Absolutismus hinauslaufen, ausgeschlossen ist. Man kann sie der Einfachheit halber „sinnhafte Rechtmäßigkeit“ nennen.

Was ist ein Rechtsstaat?

Im Unterschied zur dynastischen Legitimität, traditionaler Herrschaft oder bloßem Historismus waltet die sinnhafte Rechtmäßigkeit also kraft göttlicher Satzung. Ihr entspricht ein wahrer Rechtsstaat, der so ganz anders geartet ist als derjenige, den wir als solchen zu bezeichnen pflegen. Uns ist der Rechtsstaat nur in seiner innerweltlichen, von Thomas Hobbes (1588-1679) streng theoretisch dargelegten Funktion bekannt. Diesem Rechtsstaat aber gelten nur seine eigenen, von ihm erlassenen oder von ihm autorisierten Gesetzte, nicht aber die über-, vor- und nebenstaatlichen, die ihm gar nichts schulden. Ein Widerstandsrecht anzunehmen ist eine Sinnlosigkeit für ihn. Mehr noch: das einzig ihm bekannte, das rein innerweltliche Naturgesetz vom Machterhalt zum Zwecke der Selbstbehauptung – Regierung als Selbstzweck –  verbietet ausdrücklich, ein Widerstandsrecht anzuerkennen.

Die bei Hobbes klar vorgesehene Ausklammerung jeglichen Widerstands verbindet so unterschiedliche historische Staatsgebilde wie den liberal-oligarchischen Staat der romanischen Völker, den deutschen „Nachtwächterstaat“ des 19. Jahrhunderts, den Staat der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und alle sozialistisch-kommunistischen Staaten und „Volksrepubliken“. Aber auch bei der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik steht hinter der geschriebenen Verfassung, die pathetisch die Menschenwürde über alles stellt, eine starr realistische und absolutistische Strukturauffassung, die der des Thomas Hobbes in nichts nachsteht.

„Volk“ als naturrechtlicher Schutzschild des Rechtspositivismus

Die Bundesrepublik Deutschland kennt kein Widerstandsrecht. Was die Verfassung als solches bezeichnet, ist die bloße Verteidigung ihrer freiheitlich demokratischen Grundordnung – also ihrer selbst! Die Inhaltslosigkeit dieser Formel kennt keine andere Legitimität als die absurde zirkuläre. Selbst der wie ein Fossil im tauben juridischen Gestein eingesprengte naturrechtliche Überrest „Volk“ hebt diese Zirkularität nicht auf. Dieses Resultat ergibt sich notwendig auf dem Boden einer jeden vom göttlichen Naturrecht abgetrennten, positivistischen Rechtsauffassung.

Mit der Bezugnahme auf das „Volk“ als fiktivem Geltungsgrund erreicht die Unredlichkeit – oder das Unwissen – ihren Höhepunkt: „Demokratie“ bezeichnet dann nur noch den entscheidenden Einschnitt, mit dem sich Verfassungsrechtler und Politiker von jeglicher Transzendenz und, mit ihr, von jeder Verantwortung lossagen. Diese Art „Demokratie“ ist deshalb auch gezwungen, sich selbst, mittels Fiktionen vom „Volk“, zu legitimieren. Dieselbe Problematik hatte den liberalen Juristenstand um 1900 dahin gebracht, sich hinter dem „Volksgeist“ zu verschanzen, um von dort aus seine positive juridische Arbeit an seiner Kreatur „Rechtsstaat“, ungestört vom konstitutionellen Monarchen aber auch vom empirischen Volk, fortführen zu können.

Gott und Tyrann in einem

Da die Bezugnahme auf den „Volksgeist“ nicht mehr zeitgemäß ist, hält der Rechtspositivismus im eigenen Interesse an der Inhaltslosigkeit einer von der jeweiligen Regierungsoligarchie bedienten politischen Formel fest. Die sich aus dieser Formel ergebenden Legalisierungen und Legitimierungen wiederum sind diesen Oligarchien höchst willkommen: mit ihnen können alternative, sich dem „demokratischen Parlamentarismus“ und dessen „Ordnung“ widersetzende Willensbildungen ins Unrecht gesetzt werden.

Das „Parlament“, nicht aber der tatsächliche Volkswillen und noch weniger der Volksgeist, ist das Kondensationsprodukt des durch Wahlen festgestellten, verfassungsrechtlich relevanten Volkswillens. Die Theologie der Juristen rund um den „Rechtsstaat“ lenkt von seiner wahren irdischen Natur, die eine rein faktische Herrschaftsordnung zu sein, ab. Noch dazu maßt sich der „Rechtsstaat“ göttliche Attribute an: seine mildtätige Selbstbeschränkung dem Bürger gegenüber ist homolog jener Selbstbeschränkung des Allmächtigen, die den Menschen freie Willensbetätigung zum Guten wie zum Bösen gestattet – das heißt übertragen auf das Gemeinwesen liberales Gehenlassen.

Und die Selbstdistanzierung Gottes von seiner Schöpfung hat auch ihre, wenn auch auf dem Boden der Tatsachen stark hinkende, Parallele: der allmächtige liberale Staat, dieser auf Erden wandelnde „sterbliche Gott“ (Hobbes) bzw. „der Gang Gottes in der Welt“ (Hegel) behauptet, sich aus der „Privatsphäre“ seiner Bürger – genauso wie aus Wirtschaft, Kultur und Religion – herauszuhalten. Der wirkliche Gott hingegen ist seiner Schöpfung gegenüber nicht bei einer bloßen und auch nur unter Vorbehalt geäußerten Behauptung stehen geblieben. Er hat dem Menschen wirkliche Freiheit gegeben, keine schnöde „Verfassungsgarantie“ für Freiheit, die einzuhalten der „Rechtsstaat“, dieses goldene Kälblein der Verfassungsjuristen und Oligarchen samt zivilgesellschaftlichen Anhängseln, nicht wirklich gewillt ist.

Wann Gehorsam und wann Widerstand dem Tyrannen gegenüber geboten ist

Eine Besonderheit des Naturrechts ist, dass es tyrannische Herrschaften nicht grundsätzlich ausschließt und verwirft in der Weise, wie der „Rechtsstaat“ jeden Widerstand von vornherein ausschließt und verwirft. Im Naturrecht wird die Nützlichkeit keinesfalls blindlings einer höheren Geltung zuliebe geopfert. Deshalb heißt es auch im Naturrecht: egal, ob ein Staatswesen legitim ist oder nicht, der Besatzungszustand herrscht oder ob eine ursprünglich legitime Regierung gegenwärtig oder grundsätzlich legitimen Volksinteressen entgegensteht, immer ist zu gehorchen insoweit diese faktisch souveränen, historisch, national oder demokratisch aber illegitimen Ordnungen das vom Naturrecht geforderte Pflichtminimum leisten. Gehorchen heißt dabei aber keineswegs anerkennen!

Die Bedingung des Gehorsams tyrannischen Herrschaften gegenüber ist die, dass sie den geselligen Zustand aufrecht und, mit ihm, immer noch das Gemeinwohl zu erhalten vermögen. Nur wo der Tyrann ihnen offen zuwider handelt oder seine Ordnung selbst versagt, ist Widerstand, zuerst berechtigt, dann, bei einem weiterem Fortschreiten der Tyrannei, sogar geboten. Auch dem „Leviathan“ ist nicht grundsätzlich der Gehorsam zu versagen, es sei denn man hat die Macht, ihn durch eine im Sinne des Naturrechts bessere bzw. richtigere Ordnung zu ersetzen. Ist die dazu nötige Macht auch tatsächlich vorhanden, wird es zur Pflicht, gegenüber der falschen, verkehrten oder sonst wie mangelhaften Ordnung eine andere durchzusetzen, die mehr der wahren entspricht. Das ist ein göttlicher Auftrag, nicht an den Erstbesten, sondern an den aufgrund einer echten, wesenhaften Macht dazu berufenen wahren Besten.

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