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Bescheuert und verstiegen

Warum immer mehr Verrückte als Oberlehrer verkleidet in die Öffentlichkeit entsteigen, ist vielen noch ein Rätsel. Die theoretische Grundierung der Bescheuertheit lesen Sie hier.

Das Problem ist: Der Bescheuerte glaubt tatsächlich, die Katze gefangen zu haben. Es ist ihm bitter ernst, und er zögert nicht, Nägel mit Köpfen zu machen. Lutz Marz berichtete in einem Aufsatz in der Zeitschrift Prokla (Nr. 80, September 1990) vom betrieblichen Meldewesen der DDR: Ein Betrieb hat den Plan übererfüllt. Am zweiten Tag des neuen Monats kommt eine Planänderung, durch die er vom Übererfüller zum Untererfüller wird. Verbunden mit der Planänderung ist die Aufforderung, detailliert zu begründen, weshalb der Betrieb den Plan untererfüllt habe, sowie konkrete Schritte anzugeben, wie er den Rückstand in nächster Zeit aufholen wolle. – Man muss sich einmal klarmachen, was Menschen angetan wird, die dazu gezwungen werden, sich Gründe für Fehler einfallen lassen zu müssen, die sie gar nicht gemacht haben. Denn die wirkliche Ursache der Untererfüllung, die Planänderung, ist natürlich tabu. (Die heutige Hochschulpolitik funktioniert übrigens über weite Strecken ähnlich.)

Bescheuertheit ist nicht nur eine Befindlichkeit von Menschen, sondern zugleich eine soziale Mechanik. Sie kennzeichnet den Realitätsverlust in Gruppen ebenso wie die Perpetuierung von Zuständen, die wir gemeinhin als „kafkaesk“ bezeichnen. Hierzu bedarf sie einer kollektiven Struktur wechselseitiger Verpflichtung und Bestätigung. Ohne Bescheuertheitsgemeinschaft keine politische Bescheuertheit. Bescheuerte müssen sich die Wahrheit ihrer Ideologie ständig gegenseitig einreden, um sich auch bei Rückschlägen ihre Standfestigkeit zu beweisen und den Virus des Zweifels fernzuhalten. Trotzdem kommt es natürlich, schon aufgrund der Abstufungen und Gradualität der Bescheuertheit, immer wieder zu Spaltungen und Konflikten. Schwach oder minder Bescheuerten stehen hundertfünfzigprozentig und sogar dreihundertprozentig Bescheuerte gegenüber, zwischen denen nicht selten erbitterte Glaubenskämpfe toben.

Bei alledem ist wichtig: Bescheuertheit ist eine reine Beobachterkategorie, die nur „von außen“ Geltung beanspruchen kann. Der Bescheuerte weiß nichts von seiner Bescheuertheit, sondern hält sie oftmals für einen Beweis seiner Unbeugsamkeit und Stärke. Man kann sich das an der Differenz von Heuchelei und Bigotterie klarmachen. Während der Heuchler weiß, dass er heuchelt, hat die Bigotterie von ihrer Doppelmoral keine Ahnung. Sie fühlt sich nicht nur im Recht, sondern im Überrecht. Ebenso die Bescheuertheit: So sehr ist sie von der absoluten Wahrheit ihrer Überzeugung überzeugt, dass alle Weigerung oder Widerspenstigkeit der Ungläubigen, sich bekehren zu lassen, niemals auf eigene Defizite, sondern immer nur auf die ungebrochene Prägekraft der verderbten Verhältnisse zurückgeführt werden kann. Auch dies kann man allerdings häufig beobachten: Findet die Bescheuertheit keinen Beifall oder stößt gar auf Widerspruch, spielt sie sofort die beleidigte Leberwurst.

(Ende der Kostprobe)

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