Gesichtet

Das Schicksal des Adels

Für den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset war die „menschliche Gesellschaft“ in ihrem innersten Wesen aristokratisch.

Nach ihm hörte eine Gesellschaft in dem Maße auf, eine Gesellschaft zu sein, in welchem sie unaristokratisch wäre – eine solche Behauptung lädt ein, dem Adel als dem Urbild der Aristokratie ein wenig auf den Grund zu gehen.

Die Vorteile des Feudalsystems

Für das neuere Europa ist entscheidend gewesen die Ausbildung der Feudalaristokratie im Mittelalter: Vom 8. Jahrhundert an wächst die Unsicherheit unter den europäischen Völkern, die ein zunehmend versprengtes Dasein fristen und quasi auf sich selbst zurückgeworfen leben. Zuerst ist es das Vordringen des Islam, dann das der Wikinger, welches die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Eine wirksame Abwehr und Verteidigung kann nur durch lokale Machthaber organisiert werden.

Diese üben mit der Zeit Gewalten aus, die zuvor allein Königen zustanden, wie z.B. die höhere Gerichtsbarkeit. Immer öfters geraten diese Machthaber in Streit untereinander, berauben und bekriegen sich gegenseitig und machen selber das Land unsicher. Die kleineren unter ihnen, aber auch die einfache Bevölkerung, gehen die typisch feudalen Abhängigkeitsverhältnisse ein: Dienstleistungen gegen Schutz auf agrarischer Grundlage.

Die einstmals vom König ernannten Verwaltungsbeamten und Heerführer, die Grafen, Markgrafen und Herzöge, machen aus ihrem Amt erbliche Titel und gesellen sich somit zu der Erbaristokratie der germanischen Edlen und Stammesherzöge. Ab dem 10. Jahrhundert hat sich das Feudalsystem durchgesetzt, selbst der König wendet seine Praktiken an.

Veredelung der Kriegeraristokratie

Zum vieldeutigen Begriff „Feudalismus“ gehören das Erstarken der lokalen Gewalten, die persönlichen Treue- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie die Entwicklung des Lehnsrechts, welches nach einer Anfangsphase des „Rechts des Stärkeren“ auf Brauch und Überlieferung beruht. Es handelt sich um ein aus der Lebenspraxis hervorquellendes, streng ritualisiertes und später kodifiziertes Gewohnheitsrecht.

Wirtschaftliche Grundlage des Feudalismus ist die Grundrente. Dazu gehören auch gewisse Dienste und Abgaben – vornehmlich in Naturalien –, welche die leibeigenen Bauern an ihren Herren zu entrichten haben. Im Gegenzug dazu stehen sie unter seinem Schutz und profitieren von der von ihm betriebenen Organisation der Dorfwirtschaft.

Um das Jahr 1000 erfährt die Kriegeraristokratie nach einem Jahrhundert der Fehden und Kleinkriege sowie gewalttätigen Aneignungen von Ländereien eine weitere Veredlung: zuerst sind es die kirchlichen Lehren vom Gottesfrieden, die dem Adel neue Tugenden zuführen, dann ist es der Kreuzzugsgedanke, der ihm genauso zu einem christlichen wie zu einem europäischen aber auch nationalen Bewusstsein verhilft.

Aus den im Mittelmeerraum immer noch wirksamen spätantiken Traditionen sowie eigenen, genuin mittelalterlichen Zutaten entwickelt sich die höfische Kultur, die sich ebenfalls über ganz Europa ausbreitet und wegweisend ist. Dank Kreuzzügen und Tributzahlungen der Muslime an die Christen werden aus dem byzantinischen und islamischen Kultur- und Wirtschaftsraum unzählige Luxusgüter, aber auch Waffen- und Waffentechniken genauso übernommen wie bestimmte Verhaltensweisen und Geschmäcker.

Niedergang des Feudaladels

Wie sehr der Adel sich auch im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat und wie neu die Geschlechter sein mögen, die ab dem 15. Jahrhundert als adlige auftreten, so hat er doch einen Menschentypus hervorgebracht, dessen Grundzüge für die europäischen Gesellschaften, z.T. bis ins zwanzigste Jahrhundert, verbindlich waren. Dabei war der Abbau des Adels schon in vollem Gange: Geldwirtschaft, moderner Staat sowie Verpflanzung der Macht vom Lande in die aufblühenden Städte nahmen ihm schrittweise seine Daseinsberechtigung.

Seine Einkünfte fielen bei immer mehr zunehmenden Kosten immer magerer aus. Seine politische Bedeutung wurde in der Folge immer geringer: In der Verwaltung machte ihm ein geschultes, zumeist bürgerliches Fachbeamtentum das Terrain streitig. Im Krieg wurden Edelleute entweder als Söldner angeworben oder als Soldaten bezahlt und standen dazu noch auf gleicher Ebene wie so mancher „gemeine“ Söldner. Eine verbesserte Infanterie und der Gebrauch von Feuerwaffen brachten den alten Kriegeradel auch taktisch immer mehr ins Abseits.

Giftige Pfeile gegen den Adel

Zu allem Überfluss kam der Adel dann noch ins Visier der Humanisten, die ihm seinen Ehrgeiz, seine Unbildung und sogar seine Armut vorwarfen. Aber selbst diese giftigen Pfeile, die die Humanisten mit mehr oder weniger Recht auf den Adel abschossen, konnten seinem Prestige kaum etwas anhaben.

Alle, die es in der Neuzeit konnten, wurden adlig, egal ob Weber, Bankier, Überseehändler, Hofrat oder Militär. Bei einem tat es der Reichtum, bei einem anderen die List oder das Verdienst, und bei wieder einem anderen die Karriere in Heer und Verwaltung. Auch vor Betrug, Bestechung und Täuschung wurde nicht zurückgeschreckt im Bestreben, sich einen Ruf als Edelmann zu machen oder sich einen Adelstitel auf weiß Gott welchem Wege zu verschaffen.

Das Nachrücken der Bürgerlichen

Den entscheidenden Schlag gegen den Adel führte der Absolutismus aus: Während er auf der einen Seite mit den Privilegien und der Selbständigkeit der alten Adelsgeschlechter aufräumte, machte er sie auf der anderen von sich abhängig: Wer es als Edelmann zu etwas bringen wollte, musste sich in den Dienst der Krone oder eines Fürstenhauses begeben, vor allem dann, wenn er als Zweit-, Dritt-, usw. Geborener eben nicht der Anwärter auf Land und Titel war.

Entweder im Krieg, oder zur See oder in des Königs Haushalt lautet eine spanische Devise aus der Zeit. Auch verfuhren die absolutistischen Monarchen pragmatisch, wenn sie verdiente Beamten in den Adelsstand erhoben. Ab dem 17. Jahrhundert wimmelte es nur so von Rittern und Freiherren, deren adlige Genealogie nicht über das eigene Geburtsdatum hinausreichte.

Damit ging ein Eindringen bürgerlicher Ansichten und Wertvorstellungen einher, die mit denen des ehemaligen Kriegeradels unvereinbar waren. Bitter klagten die Nachkommen des alten Feudaladels über das Überhandnehmen geadelter Funktionäre, der Noblesse de robe. Das Kriterium adliger Abstammung ging dabei nicht vollends verloren, hatte aber viel von seinem alten Zauber, von seinem mystisch begründeten und biologisch weiter vererbten Vorzug eingebüßt.

1789: Der „Adel“ verzichtet auf seine Privilegien

Die französischen Aufklärer, die fast nur noch einen domestizierten, genießerischen und intrigierenden, ansonsten aber nutzlosen Hofadel vor Augen hatten, führten die von den Humanisten in Gang gebrachte Kampagne der Herabsetzung des Adels viel gründlicher fort. Der Dienst, der adelte, wurde damals auch nicht mehr innerhalb eines persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses aufgefasst, sondern im Sinne eines abstrakten Utilitarismus.

Als 1789 der Adel feierlich auf seine Vorrechte verzichtete, war er nur konsequent. Auch waren viele von diesen „Adligen“ ihrer Abstammung nach keine „Uradeligen“ mehr, sondern die Urenkel geadelter Parvenüs. Um dieselbe Zeit war eine interessante Polemik gegen die französischen Adligen aufgekommen: diese hätten als Nachfahren der Franken, die fremde Eroberer waren, ihre Herrschaft der mehrheitlich immer noch gallisch-römischen Bevölkerung aufgezwungen.

Die, auch physische Befreiung vom Adel sei ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Befreiung der Nation insgesamt. Was die Revolution in Frankreich dann vernichtete, war von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen ein zumeist schon arg heruntergekommener Adel.

Der „Volkscharakter“ – ein Rest adliger Weltanschauung

Das 19. Jahrhundert hat dem Adel schließlich in fast allen Ländern Europas auf verschiedenste Weise den Garaus gemacht, im romanischen Süden und Westen mehr als im germanisch-slawisch-ungarischen Norden und Osten. Großbritannien nimmt dabei eine Mittelstellung ein. Alexis de Tocquevilles melancholische Überlegungen über den Verlust der Adelskultur innerhalb desselben Adels geben sich die Hand mit den etwas späteren Betrachtungen des deutschen Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl, welcher aus Taktgefühl den Namen des verarmten letzten Sprosses einer einstmals großen und berühmten Grafenfamilie nicht nennen will.

Was sich ein wenig aus aristokratischen Zeiten zu uns herübergerettet hat, sind weniger die Namen – was sind schon die Namen! –, als einige historische Reminiszenzen, gepaart mit einem konservativen Sinn. Es ist von verschiedenen Sozialwissenschaften hinreichend analysiert worden, wie sehr aristokratische Ansichten zu „Volkscharakteren“ geworden, als solche aber auch mit diesen untergegangen sind. Das Einstehen für Individualität, überhaupt für Charakter und Persönlichkeit, der Bezug zum Leben, das Beharren am Alten, das Bevorzugen menschlicher Tugenden, überhaupt menschlicher Eigenschaften gegenüber der Abstraktion, die Skepsis gegenüber jeglicher Neuerung, sind größtenteils aristokratischer Herkunft.

Und eine Gesellschaft, die nicht aristokratisch ist, ist tatsächlich keine Gesellschaft mehr, sondern eine unmenschliche Brutstätte der Gemeinheit, des Zynismus und schlussendlich der Gleichgültigkeit bei gleichzeitigem Wahnsinn teils frei laufender, teils gelenkter Massen. Wo kein Adel, besonders der Gesinnung, da kein Kopf.

(Bild: Uta von Naumburg, von: LinsengerichtCC BY-SA 3.0)

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