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Das zweite Achtundsechzig

18012013046Nachdem ich es in den vergangenen Monaten dreimal abgelehnt habe, eingereichte Rezensionen zum Buch Er ist wieder da von Timur Vermes bei uns zu veröffentlichen und mir gestern wieder ein grundsätzliches Gespräch zu diesem „genialen“ Buch aufgenötigt wurde, ist es an der Zeit für ein paar grundsätzliche Worte.

Ersteinmal stimmt es mich nachdenklich, daß ausgerechnet zu diesem Buch so viele Rezensionen eingereicht wurden. Zum Vergleich: bei wirklich wichtigen Büchern ist es sonst vergleichsweise schwer, Autoren für Rezensionen zu finden. Von selbst werden Rezensionen nur sehr, sehr selten eingereicht. Pro Jahr kann man das an einer Hand abzählen. So lange ich bei der BN arbeite, ist es noch nie vorgekommen, daß zu einem Buch selbständig zwei Rezensionen verschiedener Autoren eingereicht wurden. Nun sind es drei und natürlich frage ich mich, ob denn die Schere zwischen unserem Programm, also den Schwerpunkten, die wir für wichtig erachten und dem, was den Leserkreis interessiert, wirklich so weit auseinanderklafft?

Und natürlich ist das eine rhetorische Frage, denn selbstverständlich bin ich davon überzeugt, daß wir Wahrnehmungselitären etwas weitsichtiger sein sollten. Um es für mein Ressort auf den Punkt zu bringen: Wir schreiben nicht mehr über Hitler. Die großen Fragen der nächsten Jahre sind die Europas und seiner Regionen. Zieht man den Fokus enger, ist es besonders die Rolle Mitteldeutschlands, die beobachtet und gestaltet werden will. Im Oktober traf ich den Schriftsteller Arno Surminski zu einem Interview in Hamburg (erschienen unter dem Titel »Ich möchte nicht niederknien« in den Sezession No. 51). Darin sprachen wir auch über die seit Jahren ausstehende Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Surminski sprach in diesem Zusammenhang davon, daß ein zweites Achtundsechzig bevorstehe, in welchem die Kinder der letzten DDR-Generation beginnen werden, ihren Eltern kritische Fragen zu stellen.

Daß es heute nicht wohlgelitten ist, kritische Fragen zu einem totalitären Staat zu stellen, der sich auf deutschem Boden nach 1945 austobte, daß da lieber verharmlost wird und mit einem schmunzelnden Understatement weggeschaut, steht außer Frage. So schlimm war das alles ja nicht. Und da es sich beim Arbeiter- und Bauernstaat um einen linken Staat handelte, wird es unvermeidbar sein, daß diese kritschen Fragen von Seiten der Konservativen kommen müssen. Von den SED-Würdenträgern und ihren Kindern jedenfalls, die heute noch in Politik, Wirtschaft und Medien in Amt und Würden sind, werden diese Fragen sicher nicht kommen. Und genau deshalb ist es unsere Aufgabe, aufzusehen, uns freizukämpfen aus der übergroßen Zeitung, die uns jeden Tag mit einem einzigen Thema einwickeln will (siehe Titelbild) und kritisch einzuhaken, wenn beispielsweise ein knallrotes Mistblatt gestern „Rote leben länger“ titelte und sich – endlich mal! – ganz atheistisch zu Ostern mit Karl Marx beschäftigte.

Wir werden unsere inhaltlichen Schwerpunkte deshalb stärker auf die Zeitgrenze 1989 fokussieren. Die anderen können sich derweil weiter mit ihren zivilreligiösen Sandkastenspielen aufhalten.

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