Rezension

Der gerechte Mord im Orient-Express

Draußen der übliche Frankfurter Schneematsch. Drinnen dampft ein Luxuszug durch den tiefverschneiten Balkan. Die gewaltige Bergkulisse drückt mich in den Kinosessel. Schließlich kracht eine Schneelawine runter und zerrt den Orientexpress auf einer Holzbrücke aus seinem Gleis. Nur mühsam krabble ich unter meinem Kinosessel hervor.

Die starbesetzte Neuverfilmung von Mord im Orient-Express nach dem Krimi von Agatha Christie beeindruckt nicht nur durch das in Szene gesetzte Winterpanorama. Alle Passagiere haben ein Motiv für den Mordkomplott am Kunsthändler Samuel Edward Ratchett, der Jahre zuvor die kleine Daisy Armstrong entführt und ermordet hatte: Sie sind seelisch schwer verletzt, da sie eine emotionale Verbindung zur Familie des Mordopfers haben.

Meisterdetektiv Hercule Poirot befasst sich mit der Frage, was Gerechtigkeit ist. Er muss erkennen, dass es in manchen Fällen keine richtige, eindeutige Antwort darüber gibt, was gut oder böse ist. Bis zum Schluss bleibt die Frage „Ist ein Mensch immer eines Verbrechens schuldig, wenn er damit ein anderes sühnt?“ bestehen.

Wenn man so will, begnadigt Hercule Poirot am Ende die Passagiere. Sie dürfen – unbehelligt von der Polizei – den Zug verlassen. Der gemeinschaftlich begangene Mord im Orient-Express bleibt ungesühnt, was vielleicht empörend ist, doch lautet die nächste Frage: Muss Recht immer Gerechtigkeit sprechen oder öffnet diese Erwartungshaltung Abgründe?

War on terror

Wir machen einen Schwenk in die Neuzeit der Gegenwart: Der Elite-Soldat Robert O’Neill, der den früheren Anführer des Terror-Netzwerks Al-Quaida, Osama bin Laden, tötete, positioniert sich – auch außerhalb eines Gerichts – auf der Seite der Gerechtigkeit:

„Ich bin nach Pakistan geflogen, wegen all dessen, was am 11. September 2001 passiert ist. Unser Ziel war Gerechtigkeit, ob in einem Gerichtssaal oder vor Ort. Ich habe später Eltern getroffen, die ihre Kinder 2001 verloren hatten. Und die haben mir gesagt, ich hätte ihnen geholfen, das zu verarbeiten.“

Nun ist es so, dass Gerichtssäle wohl nicht mehr notwendig sind und somit auch kein Richter mehr Gnade walten lassen könnte, da die USA die normale Strafverfolgung mit ihren Ermittlungspersonen, der Staatsanwaltschaft usw. ausgehebelt hat und stattdessen den war on terror proklamiert, als ob Terrorismus eine Krankheit wäre, die man ausrotten könnte. Der gerechte Wahn tötet bis heute Millionen Menschen. Wenn das kein Abgrund ist!

Abgesehen davon macht persönliche Betroffenheit gnadenlos. Ein klassischer Erfahrungswert, wann immer Angehörige die Möglichkeit hatten, das Strafmaß über den Täter selbst zu bestimmen. Auch bezweifle ich, dass sich seelische Verletzungen durch Racheakte verarbeiten bzw. heilen lassen. Das gilt nicht nur für die Mörder im Orient-Express.

War on drugs

Auch diesen Krieg – also die Vertreibung und Ausradierung von Süchtigen, um eine drogenfreie Welt zu schaffen – führen die USA. Die Konsequenz beschreibt der britische Journalist Johann Hari in seinem Buch Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges:

„In den Vereinigten Staaten befinden sich heute mehr Menschen wegen Drogenvergehen in Haft als in ganz Westeuropa Menschen für sämtliche Vergehen zusammengenommen. Keine Gesellschaft hat je zuvor einen derart hohen Anteil seiner Bevölkerung eingesperrt. Zöge man alle US-amerikanischen Gefängnisse in einem neuen Staat zusammen, stünde dieser hinsichtlich des Bevölkerungsreichtums an 35. Stelle der Bundesstaaten. Vom liberalen Staat New York bis zum liberalen Staat Kalifornien gehört das Verhaften von Drogenabhängigen und das Foltern von Drogengefangenen zur Routine. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Justizministerium schätzt, dass jedes Jahr durchschnittlich 216.000 Gefangene vergewaltigt werden.“

Gnade für mich – Gerechtigkeit für dich

Die anständigen Bürger auf der einen Seite, die Verdammten in den Gefängnissen auf der anderen Seite. Und wo ist Gott, von dem die Bibel sagt, dass er sowohl gnädig als auch gerecht ist? Als ich das Alte Testament von Anfang bis Ende las, kam es mir vor wie bei einem Gänseblümchen-Orakel: Gott ist zornig, Gott ist barmherzig, Gott ist zornig, Gott ist barmherzig, Gott ist zornig (…) Und das letzte Blättchen, das ich zupfte, sagte: Gott ist barmherzig!

Wenn ich eine Erkenntnis aus der Lektüre des Alten Testaments gezogen habe, dann ist es die, dass Gott am Ende der Zeit barmherzig ist. Gott vereint Gnade und Gerechtigkeit, während Christen in aller Regel selbstgerecht sind. „Gott muss so handeln, er hat keine andere Wahl“, ist ihre Standardwendung, wenn sie betonen, dass am Ende der Zeit die Christusgläubigen das ewige Leben haben und die anderen nicht, sprich: die Guten ins Töpfchen kommen und die Schlechten ins Kröpfchen.

Dabei erschaffen sie Gott nach ihrem Ebenbild. Es ist nämlich ihre menschliche Natur und nicht Gott, die sie so denken und fühlen lässt. Den liebsten Menschen sind die Höllenqualen der Anderen, der Verworfenen im Diesseits und im Jenseits nur ein Schulterzucken wert, solange sie nur Gott auf ihrer Seite wähnen. Gott ist aber nicht auf ihrer Seite. Er ist anders!

(Bild: Trailerausschnitt)

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