Gesichtet

Der Verlust des Händedrucks

Seit nunmehr über einem Jahr leben wir in einem anhaltenden Ausnahmezustand. Corona hat sprichwörtlich über Nacht das Leben, wie es die meisten gewohnt waren, auf den Kopf gestellt. Dinge, die zuvor so alltäglich waren, so dass man keinen Gedanken an sie verschwendete, sind heute Gegenstand ausführlichster Diskussionen. Ein Beispiel: Das Händeschütteln.

Im Deutschlandfunk habe ich unlängst den Journalisten Johannes Nichelmann dazu Stellung nehmen hören: „Ich möchte wirklich nie wieder jemandem die Hand geben müssen.“ Nun gut, könnte man sagen. Wenn er nicht will, will er halt nicht.

Abkehr von sozialen und kulturellen Gepflogenheiten

Und das würde auch stimmen, wenn damit nicht ein weit schwerwiegenderes Problem angesprochen wäre. Es geht hier nicht nur um das Verhindern einer etwaigen Ansteckung. Dieser neue Ekel vor dem Handschlag ist vielmehr ein schwerer Schlag auf jene kulturellen Selbstverständlichkeiten, die das Auftreten in der Öffentlichkeit bisher regelten und die Sicherheit gaben.

Darüber hinaus verrät der Umstand, dass der Händedruck bei manchen Menschen nicht mehr als wichtig erachtet wird, so einiges über den Geisteszustand der Zeitgenossen. Die Weigerung, die Hand zu geben, gilt allgemein als unhöflich. Der Händedruck ist kulturell so verankert, wie es nur geht. Er lässt tief blicken, verrät so einiges über den Charakter des Gegenübers. Man stellt sich mit einem Händedruck im wahrsten Sinne des Wortes vor. Er ist eine Kulturtechnik.

Mit dem Händeschütteln drückt man Wertschätzung aus. Das steht für Verlässlichkeit. „Sich die Hand drauf geben“, heißt es nicht umsonst. In vergangenen Jahrhunderten wurden damit Geschäfte aller Art verbindlich geregelt. Menschen hingegen, die sich mit dem Händedruck schwertun, haben meiner Beobachtung nach auch Schwierigkeiten mit Verbindlichkeiten und zudem ein Empathiedefizit.

Zeit der Formlosigkeit

Der Handschlag ist ehrlich. Er ist ein Instrument eines Ehrenmannes. Davon gibt es aber leider nicht mehr viele. Das formlose „Hi“ oder „Hallo“ hingegen, das man seinem Gegenüber vor die Füße wirft, passt ausgezeichnet in unsere Zeit der Formlosigkeit. Alles ist beliebig, alles relativ. Es gibt keine festen Zusagen abseits eines schriftlichen Vertrages mehr. „Der Ehre halber“ ist ein Fremdwort geworden.

Es kommt nicht von ungefähr, dass vor allem Wohlstandsgesellschaften eine gewisse Lust entwickeln, alles schriftlich zu fixieren und juristisch wasserdicht zu gestalten. Globalisierung und Liberalisierung sei Dank kennt man sein Gegenüber nicht mehr. Und vertraut ihm daher auch nicht mehr. Man sucht Verbindlichkeit in einem Klima der Unverbindlichkeit künstlich zu erzeugen. Kein Wunder also, wenn der Handschlag nur noch als Anachronismus, bestenfalls als nette Marotte gesehen wird!

Unsere Gesellschaft ist also nicht nur unverbindlich und distanziert. Neuerdings auch im wahrsten Sinne des Wortes steril und hygienisch. Was macht es da, dass Zwischenmenschlichkeit und soziale Nähe aussterben? Hauptsache die tausenden Grippetoten jedes Jahr können verhindert werden. Wenn das Leben allerdings zum bloßen, „nackten“ Überleben wird, wird es zum Vor-sich-hin-vegetieren und letztlich zum Nicht-Leben. Denn was bringt es, lebendig zu sein, wenn man es mit niemandem teilen kann?

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