Gesichtet

Die Eindrücklichkeit des Moments

„Meine sehr geehrten Damen und Herren. Bitte schalten sie nun ihr Mobiltelefone vollständig aus und lassen sie diese während der gesamten Vorstellung ausgeschaltet. Vielen Dank.“

So oder so ähnlich schallt es kurz vor jeder Ballett-Vorstellung im Nationaltheater München durch den beeindruckenden Saal. Anschließend holt so mancher nochmal sein Smartphone raus und schaltet es ab. Die meisten lassen es in der Tasche, die ganze Vorstellung.

Abseits davon, den Pool potenzieller Ablenkungen für die Tänzer auf der Bühne zu minimieren – nichts ist störender, wenn gerade ein bezaubernder Pas-de-deux auf der Bühne gegeben wird und plötzlich ein Blitzlicht durch den Saal zuckt – kann man das auch als Mechanismus der Erlebnissteigerung sehen.

Handy in der Tasche lassen

Dieser Zeit werden die Erlebnisse im Leben vieler Menschen, in denen sie etwas einfach nur im Moment genießen, immer weniger. Alles wird gefilmt, fotografiert oder sonstwie aufgenommen. Früher wendeten sich auf einer Hochzeit beim Einzug der Braut alle Augenpaare auf dieselbe. Heute sind es weniger Augen, als Linsen von Handykameras. Man muss diesen einmaligen Moment schließlich aufnehmen, festhalten. Muss man eben nicht! Und wenn, dann reicht es, wenn es einer macht für das Brautpaar. Der Rest sollte gefälligst sein Handy in der Tasche lassen. Zumal der Zauber des Moments oftmals in der Aufnahme verlorengeht.

Der Mensch lebt heute immer mehr hinter seiner Handykamera und bekommt von der Schönheit des Moments allenfalls nur noch einen Bruchteil mit. Meist zerstört die ewige Filmerei die Eindrücklichkeit eines Augenblicks zur Gänze. Wieso muss man denn alles festhalten und archivieren? Ganz davon abgesehen, dass man diese Videos oder Fotos dann auf irgendeiner Festplatte abspeichert und zum Großteil nie wieder anschaut; was spricht denn dagegen, die Eindrücke einfach in sich aufzunehmen und in seinen Erinnerungen zu speichern?

Sollte man die Ballettvorstellung nicht viel eher mit allen Sinnen genießen und sich an ihrer Schönheit erfreuen, um danach mit dem erhebenden Gefühl den Saal zu verlassen, von etwas ganz besonderem Teil gewesen zu sein oder soll man die Vorstellung über in den Bildschirm seines Smartphones starren, um sich danach die Frage zu stellen, um was es jetzt eigentlich genau ging? Eigentlich sollte da die Wahl nicht schwer fallen. Ich bin mir jedoch sicher, dass viele Besucher zu letzterem tendieren würden (vor allem diejenigen, die eigentlich nie ins Ballett gehen), wenn es nicht verboten wäre.

Zwei Fotos in zwei Wochen: Sommer in der Tundra

Erstens hat man dann den Moment in seiner ganzen Schönheit genossen und gibt ihm zweitens etwas ganz besonderes durch die Flüchtigkeit desselben. Wenn der Moment vorbei ist, ist er vorbei. Um ein Beispiel zu bemühen: Ich war letzten Sommer in der nordschwedischen Tundra mit dem Rucksack und meinem Bruder unterwegs. Ich habe in toto zwei Bilder gemacht in zwei Wochen. Alles andere war Momentaufnahme in meinem Bewusstsein.

Nun bleiben ein unvergessliches Erlebnis und einige Erinnerungen, die nur meine sind. Wenn man hingegen seinen Urlaub nur die Kameralinse erlebt um anschließend eine tolle Diashow präsentieren zu können, was bleibt dann noch für einen selbst? Letzten Endes hat man seine Eindrücke nur für andere gemacht, die dann eine schöne Fotoreihe erleben dürfen. Man selbst jedoch behält nichts für sich. Offenbar will man das auch gar nicht mehr.

Und hier offenbart sich eine weitere Unart unserer heutigen Zeit. Gemachte Erlebnisse sind nur wirklich erlebt worden, wenn man sie mit anderen „teilt“. So wird alles, aber auch wirklich alles (vom Sonnenaufgang bis zum Big Mac) festgehalten und in die unendliche Blase der Beliebigkeit – Internet genannt – hochgeladen. Beliebig daher, weil hier eine Flut von Momenten existiert, die dem einzelnen alle Besonderheit nimmt. Das Besondere wird zum beliebig Austauschbaren in der Masse und geht dort unter. Denn wie viele Sonnenaufgänge kann man im Internet „bewundern“? Unendlich viele! Derjenige, den man selbst erlebt hat – und der womöglich in der Sphäre des Privaten eine ganz besondere Bedeutung mit seiner eigenen Schönheit haben könnte – ist auf einem Foto auch nicht anders, als all die anderen.

Die Jagd nach den Likes

Heute jedoch, so drängt es sich auf, gilt der Grundsatz: Wenn du nicht mindestens so und so viele „Likes“ für dein Bild bekommen hast, hast du den Moment, der von jenem Bild eingefangen werden soll, nicht erlebt. Zumindest war es kein schöner Moment, wenn nicht mindestens einhundert andere Leute das schön finden. Somit wird Stück für Stück die Eigenwahrnehmung von Fremdwahrnehmung abgelöst. Man macht sich abhängig von anderen und überlässt es diesen zu bewerten, ob das eigene Leben reich an Schönheit ist oder nicht. Dabei sollte diese Frage eine zutiefst private sein.

Es soll damit nicht gesagt sein, das Fotos machen per se schlecht sei. Nur vermisse ich die Zeiten, in der man seine 36 Bilder hatte, die man anschließend zum Entwickeln gab. Damals überlegte man es sich noch zweimal, ein Foto zu machen. Denn nach drei Dutzend war Schluss. Da war das Foto auch noch etwas Besonderes. Heute kann man auf eine Speicherkarte hunderte oder gar tausende Fotos speichern. Natürlich ist das Foto eines Sonnenaufgangs in den Bergen mit einer Spiegelreflex supertoll.

Jedoch ist der Sonnenaufgang dennoch nicht so eindrücklich, wenn man ihn später in einer Fotoreihe anschaut. Daher: Vielleicht beim nächsten Erlebnis einfach mal das Handy in der Tasche lassen. Stattdessen den Augenblick in seiner vollen Tiefe genießen. Denn besonders wird er schließlich auch dadurch, dass er flüchtig ist.

(Bild: Pixabay)

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