Häufig liest man von alten, vergessenen Manuskripten, die jemand irgendwo aufgefunden hat. Unserem Autor Daniel Zöllner ging es genau umgekehrt: Ihm flatterte kürzlich ein Manuskript aus der Zukunft auf den Schreibtisch. Wir laden unsere Leser ein zu einer Zeitreise und veröffentlichen hier ein Interview aus dem Jahr 2094, noch bevor die beiden Gesprächspartner überhaupt geboren sind.
ZEIT Online, 25. April 2094
Der konstruktivistische Ansatz der Gender Studies kommt aus Philosophie und Soziologie, hat sich in den letzten Jahren aber auch in den sogenannten „Naturwissenschaften“ immer mehr durchgesetzt. So wurde kürzlich einer der letzten Lehrstühle für Theoretische Physik an der Uni München in „Lehrstuhl für Gender-sensible Naturkonstruktion“ umbenannt und von Professorx Eike Holenscheier besetzt.
Als letzte Bastion der patriarchalischen, misogynen und rechten Wissenschaft der Vergangenheit tritt heute die Mathematik auf. Sie beruft sich immer noch auf absolute Objektivität und hat den konstruktivistischen Ansatz bisher noch nicht flächendeckend übernommen. Die ZEIT hat sich mit einer der Vorkämpfer*innen einer post-patriarchalischen, emanzipatorischen Mathematik unterhalten, Professorx Sascha Martin. Martin hat seit kurzem den Lehrstuhl für „Emanzipatorische Mathematik“ an der HU Berlin inne.
Interview: Sabine Hack
ZEIT: Professorx Martin, die Mathematik galt lange Zeit als beispielhaft für Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Andere Wissenschaften strebten danach, die Genauigkeit und Sicherheit mathematischen Wissens zu erreichen. Wie stehen Sie zu dieser Tradition Ihres Faches?
Martin: Zunächst muss man sagen, dass die Mathematik – wie nahezu alle Wissenschaften – in der Vergangenheit nahezu ausschließlich von Menschen betrieben wurde, die sich selbst als Männer verstanden und zudem weiße Europäer waren. Da ist es kaum verwunderlich, dass sie dem Fach das Gepräge patriarchalischen, kolonisatorischen Denkens verliehen.
Ich verstehe den Begriff der Objektivität als Ausdruck der Überwältigung des Fremden, des strukturellen Fremdenhasses. Das Fremde wird unter den Titeln des „Irrtums“, des „Fehlers“, der „Falschheit“ und so weiter aus dem Diskurs ausgegrenzt. Eine emanzipatorische Mathematik verabschiedet sich konsequent von solchem Denken.
Mal ganz dumm gefragt: Wenn wir in der Schule lernen, dass zwei plus zwei gleich vier sei und dass wir einen „Fehler“ machen, wenn wir in der Klassenarbeit als Ergebnis eine Fünf hinschreiben – sind wir dann bereits patriarchalisch geprägt?
Ein Großteil der Mathematiklehrer an Schulen versteht sich immer noch als männlich. Ich möchte wetten, dass Sie das Ergebnis von „zwei plus zwei“ von einem Mann gelernt haben, der zudem wahrscheinlich noch sehr dominant war! (lacht) Die Schul-Mathematik wird sich ändern, wenn zunehmend Lesben, Schwule und Intersexuelle zu Mathematik-Lehrer*innen ausgebildet werden. Aber das ist lediglich die institutionelle Seite des Problems. Es muss auch ein Umdenken in der Wissenschaft Mathematik stattfinden. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Mathematik „objektiv“ sei und „Fehler“ vermeiden müsse.
Provokant gefragt: Ist „zwei plus zwei gleich fünf“ jetzt plötzlich auch richtig?
Sehen Sie, das Problem besteht darin, dass Sie glauben, es gäbe die richtige Antwort auf die Frage, was zwei plus zwei ergibt. Dieses Denken muss hinterfragt werden, denn es ist das Erbe der patriarchalischen Mathematik. Die emanzipatorische Mathematik geht das Problem anders an. Sie denkt konstruktivistisch. Der Konstruktivismus ist heute ja, wie Sie wissen, in fast allen Fächern anerkannt. Nur in der Mathematik fristete er bisher eher ein Schattendasein. Die konstruktivistische Mathematik geht vor allem auf den niederländischen Mathematiker Brouwer zurück. Konstruktivistisch muss man sagen, dass mathematische Gegenstände nichts Objektives sind, sondern Konstruktionen des menschlichen Geistes.
Können Sie das am Beispiel der Zahlen erläutern?
Die konstruktivistische Mathematik versteht Zahlen nicht als etwas objektiv Vorgegebenes, sondern vom Vorgang des Zählens her. Damit wird die klassische Mengenlehre, die das Zahlenverständnis patriarchalischer Mathematik bestimmt hat, in gewissem Sinne prozessual ausgehebelt.
Können Sie das genauer erklären?
In der patriarchalischen Mathematik entsteht eine Zahl, indem ich eine Anzahl beliebiger Objekte in einer Menge zusammenfasse. Das ist einerseits ein Paradigma abstrahierenden Denkens, denn die Objekte sind ja, wie gesagt, völlig beliebig. Es ist völlig egal, ob Sie von fünf Menschen, fünf Kühen oder fünf Kugelschreibern sprechen, die Zahl Fünf ist indifferent gegenüber dem spezifischen Inhalt der Menge, die sie definiert.
Zum anderen ist es aber auch ein Paradigma homogenisierenden, vergleichgültigenden Denkens, denn ich fasse ja alle fünf Objekte in einer einzigen Menge zusammen. Dabei ist es beispielsweise völlig egal, ob die fünf Menschen, die Sie zu einer Menge zusammenfassen, unterschiedlich groß sind. Mengenlehre ist, wie man zugespitzt formulieren könnte, differenzenblind und totalisierend. Hedwig Dohm würde hier von „Versämtlichung“ sprechen.
Wie sieht demgegenüber der Ansatz emanzipatorischer Mathematik aus? Wie wird hier eine Zahl definiert?
Statt von Definitionen spreche ich in meinem Ansatz lieber von „Bahnungen“, um die Gewalt definitorischen Denkens hinter mir zu lassen. Zahlen werden, wie bereits gesagt, durch das Zählen „gebahnt“. Damit steht nicht die statische, abstrahierende Menge im Zentrum des emanzipatorischen Zahlenverständnisses, sondern der dynamische Vorgang des Zählens. Dabei verändert sich auch dieser Vorgang, denn Objekte werden nicht zu Mengen gebündelt oder synthetisiert, sondern gehen lediglich ephemere Konstellationen ein. Das hat im weiteren Prozess mathematischen Denkens extrem weitreichende Folgen, die ich hier nicht einmal andeuten kann.
Aber setzt der Vorgang des Zählens nicht bereits Zahlen voraus?
Das ist ein Missverständnis. Zählen und Zahl konstituieren sich wechselseitig. Nur ein patriarchalisches, fundamentalistisches Denken kann das Zählen dem Begriff der Zahl unterordnen oder behaupten, der Zahlbegriff sei ein „Fundament“ des Zählens.
In der traditionellen Mathematik spielte nicht nur die Mengenlehre, sondern auch der Beweis eine zentrale Rolle. Was ändert sich daran in Ihrem Ansatz?
Beweise sind ja geradezu das Nonplusultra überwältigenden patriarchalischen Denkens. Denn wenn ich etwas mathematisch bewiesen habe, muss der Andere es als „wahr“ akzeptieren, ob er oder sie es will oder nicht. So gewinne ich Macht über sie oder ihn. Es ist daher nur konsequent, wenn sich eine emanzipatorische Mathematik konsequent von Beweisen verabschiedet. Emanzipatorische Mathematik beweist nicht, sie macht lediglich Denkvorschläge auf der Grundlage der bereits erwähnten „Bahnungen“. Sie sagt: Sie können so denken, Sie müssen es aber nicht!
Nochmal zurück zu der Aufgabe „Was ergibt zwei plus zwei?“. Welchen Denkvorschlag macht eine emanzipatorische Mathematik, um diese Aufgabe zu lösen?
Letztlich liegt es an Ihnen, wie Sie diese Aufgabe lösen möchten. Entscheidend ist nur, dass die Bahnungen stimmig sind und Sie die prozessualen Lösungsschritte glaubhaft machen können.
Professorx Martin, wir hätten Sie gerne als Mathelehrer*in gehabt! Was sagen Sie Schülern und besonders Schülerinnen, die in der Schule auch heute noch unter dem patriarchalischen Regiment eines strengen Mathelehrers zu leiden haben?
Ich würde ihnen sagen: Lasst euch nicht entmutigen und einreden, dass eure Lösungen falsch seien. Lasst nicht zu, dass man eure Kreativität unterdrückt! Auch ihr seid hochbegabt!