Rezension

Die Unvernunft der Menschlichkeit

In der aktuellen Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift POLITIKUM ist das große Thema der Begriff der Identität. Literatur- und Politikwissenschaftler haben ihre unterschiedlichen Standpunkte dargestellt.

Die dort von den Autoren hervorgebrachten Argumente gründen auf dem Humanismus, der alle Menschen auf das ganz abstrakte Menschsein reduziert. Diese beschränkte Art des Denkens macht den Menschen zum nackten Tier. Jede weitere identitätsstiftende Besonderheit sei nur eingebildete Fiktion. Dazu sollen hauptsächlich religiöse, nationale, kulturelle, sexuelle Unterschiede gehören.

Identität entsteht nicht durch Willkür

Durch diese künstlich geschaffenen Unterschiede werde die Identität einer Gruppe geschaffen. Einer Masse von Menschen würde so ein unveränderlicher gemeinsamer Charakter unterstellt. Nation, Religion, Kultur, Traditionen, Bräuche wären „Differenzkategorien“ und würden die Individuen dazu verpflichten gemäß diesen Kategorien verschieden sein zu müssen. Damit eine Gruppe zur Vorherrschaft über die andere gelangen könne, müsse die Identität als Norm gegen das Andere verteidigt werden. Der Einzelne würde von seiner ethnokulturellen Identität so stark geprägt und vorherbestimmt, dass kein Entkommen möglich wäre. Die Identität werde hier zum Schicksal.

Nicht nur die über Jahrhunderte vollzogene Migrationsgeschichte würde ignoriert, sondern auch die Differenzen innerhalb der Gemeinschaften. In multikulturellen Gesellschaften gäbe es Identität nur noch im Plural. Ganz in Anlehnung an die geisteswissenschaftliche Strömung des radikalen Konstruktivismus werden völkische Abstammungsgemeinschaften als nicht real, als fiktive Konstrukte unterstellt. Sie seien in der Vergangenheit Erfindungen von Herrschenden gewesen, um die Beherrschten manipulieren zu können.

Subjekt und Objekt

Den oben genannten Argumenten liegt ein Denken zugrunde, das den Begriff des menschlichen Subjekts nicht ordentlich gefasst hat. Menschen werden da als mechanisch zusammengefasste Objekte verstanden. Objekte sind ihrem Wesen nach aber als Unfreie zu betrachten. Sie sind gleichgültig auf alle Übrigen bezogen: Als Selbstständige leisten sie Widerstand und als Unselbständige erleiden sie Gewalt.

Unter dieser Voraussetzung lässt sich eine Summe von Individuen auch als eine Masse oder ein Haufen verstehen. In einer multiethnischen Bevölkerung, in der alle Individuen vereinzelt und entwurzelt sind, geht jeder ausschließlich seinen egoistischen Wursteleien nach. Eine Einigkeit von Individuum und Bevölkerung kann nicht hergestellt werden, da das eine Gemeinschaft identitätsstiftende Moment nicht in den Individuen selbst liegt, sondern nur von Dritten an sie herangetragen wird.

Masse und Gesellschaftstotalitarismus

Selbstverständlich kann sich unter den vereinzelten Individuen das Gefühl von Gemeinschaft ausbilden. In dieser Solidarität liegt jedoch immer die Ohnmacht, dass etwas von Einzelnen als berechtigt anerkannt wird, dieses sich aber nicht geltend machen kann. Das Gemeinwohl sowie das Einhalten von Recht und Gesetz bleiben hier für die Bevölkerung eine Aufgabe, ein Sollen. Das erzwingt letztlich entweder eine Anarchie, in der das Recht des Stärkeren gilt oder einen despotischen Weltstaat, in dem die Gesetze mit Recht nichts mehr zu tun haben.

Selbst Gemeinschaften, die die Möglichkeit besitzen einen kollektiven Willen auszubilden, können in einen Gesellschaftstotalitarismus verfallen, sich als bloße Masse verstehen und ihren kollektiven Willen negieren.

Diese Verwechselung zwischen Subjekt und Objekt gilt für alle Ideologien, die einen Kurzschluss im Denken haben, indem sie das Identitätsstiftende, die Besonderheit, zwischen Einzelnheit und Allgemeinheit nicht kennen oder anerkennen. Dazu zählen nicht nur der Humanismus, der Kommunismus und der Liberalkapitalismus, sondern auch der Islam.

Subjekte können sich im Gegensatz zu Objekten selbst in Verfassung bringen. Sie sind handlungsfähig und erhalten sich im Anderen. Als Selbstzweck bestimmen sie sich als etwas zu etwas. Subjekt ist nicht nur jeder Mensch, sondern auch jede Gemeinschaft als jeder natürliche Lebenszusammenhang von Menschen. Die Vergemeinschaftung einzelner Subjekte zur Gemeinschaft macht diese als Ganze handlungsfähig. Einzelne Menschen und Gemeinschaften handeln selbstbezogen und im Gegensatz zu einer bloßen Masse kann die Gemeinschaft nicht nur sich selbst organisieren, sondern auch selbst bestimmen und hat damit einen kollektiven Willen, welcher historisch gewachsen ist.

Einheimische Vorfahren

Diese aus dem natürlichen Lebenszusammenhang entstandene Verwandtschaft wird auch bestätigt von dem Phänomen des Ahnenschwundes. Gehen wir bis in das 15. Jahrhundert zurück hat jeder Deutsche mehr als eine Million Vorfahren. Geht man in der Zeit noch ein paar Jahrhunderte weiter zurück, so haben alle Deutschen fast sämtliche Ahnen gemeinsam. Die über Jahrhunderte vollzogene Migrationsgeschichte wird damit nicht ignoriert, denn durch das Heiraten innerhalb einer Gemeinschaft haben die Nachkommen eines integrierten Fremden nach wenigen Generationen überwiegend einheimische Vorfahren.

Der Begriff der Identität setzt notwendig das Vorhandensein Unterschiedener voraus. Diese stimmen in einer oder mehreren Qualitäten überein. Die Identität ist also mit sich selbst im Anderen gleich. Sie ist eine existierende Abstraktion. Man kann sie nicht empirisch wahrnehmen, sie zeigt sich jedoch in ihren Erscheinungsformen. Die ethnokulturelle Identität eines Volkes zum Beispiel erscheint in ihren Traditionen, Bräuchen, Gedanken etc. Diese Erscheinungsformen dürfen nicht mit der Identität selbst verwechselt werden. Wie könne das bloß äußerliche Übernehmen von Traditionen die ethnokulturelle Identität eines fremden Individuums ändern?

Bleibt man bei einer den Individuen gemeinsamen Identität stehen, versteht man das Subjekt als Reflexion. Das Subjekt gibt sich im Anderen aber nicht nur kund, erscheint nicht nur, sondern verhält sich zu ihm bearbeitend. Die Individuen sind so nicht nur von einem Dritten äußerlich zusammengefasst als eine Identität innehabend, sondern sie sind tätig und bringen ihre Identität durch selbst gesetzte Handlungen hervor. Dieser Identität gemäß setzen die Individuen sich Willensbestimmungen, die sie dann durch Verausgabung ihrer Kräfte als konkrete Ordnung erzeugen. Diese Ordnung ist das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht.

Wie eine Gemeinschaft sich selbst entwickelt

Jenes prozessuale Sich Bestimmen einer Gemeinschaft ist ihre Selbstentwicklung. Im Gegensatz zu einer bloßen Masse ist die Gesamtheit der Individuen eines Volkes damit mehr als ihre bloße Summe. Der Spielraum, den die kollektiven Voraussetzungen einem Individuum lassen, sind immer groß genug, um frei über seine Handlungen entscheiden zu können. Der Einzelne kann sich nun nicht deshalb als vorherbestimmt oder unfrei bedauern, weil ihm seine Vernunft kraft eigener Einsicht verbietet, seine Willkür gegen den allgemeinen Willen zu wenden.

Das ist für den Einzelnen kein Schicksal mehr, wie die Autoren meinen, sondern die vernunftgeleitete Wahl zwischen mehreren sich wechselseitig ausschließenden Handlungsmöglichkeiten. Das Einhalten von Recht und Gesetz ist damit zu einem Wollen geworden.

So ist es auch gar nicht nötig in einer Gemeinschaft die Erscheinungsformen der Identität als eine Norm verteidigen zu müssen. Der allgemein-vernünftige Wille einer Gemeinschaft lässt sich ohnehin nicht normieren, da dieser durch sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse in ständiger Veränderung begriffen ist. Wie könnte der eigene Wille oder Gedanken – Naturvorgängen gleich – in der Reihe ihrer Erscheinungen fixiert werden?

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