Rezension

Frank Lisson: Weltverlorenheit

In seinem neuesten Werk geht Frank Lisson der „Weltverlorenheit“ als dem für ihn abgründigen Gefühl des denkenden Menschen nach.

Wo befinden wir uns eigentlich, wenn wir in der Welt sind? Spätestens seit Beginn der Aufklärung ist diese Frage für den hiesigen Menschen überhaupt nicht mehr klar zu beantworten. Wo vorher Gott den Angelpunkt des Daseins bildete, ist uns dieser heute nicht mehr selbstverständlich gegeben, ohne daß wir dafür je Ersatz gefunden hätten. Aus der Konsequenz daraus, ist für viele Denker die Welt seither sinnlos geworden, weshalb sich auch nicht wenige von ihr abkapselten.

Je mehr sich der Mensch gewinnt, desto mehr geht er der Welt verloren

Weltverlorene, wie Hölderlin und Nietzsche es waren, sind heute noch berühmt, obwohl niemand mehr so recht weiß, warum eigentlich. Akademisch wie kommerziell werden mit ihnen Geschäfte betrieben. Man bestaunt sie als Kuriositäten, die sich unverständlicherweise nie so recht heimisch fühlten in der Welt, weil sie sich ihr wohl aus Eitelkeit verweigerten. Deren philosophische Probleme waren denn auch stets nur für wenige wirklich wichtig, für viele weitere Luxus, und die Masse konnte gar kein Problem erkennen.

Wer hingegen wirklich denkt, tut dies zunächst immer ergebnisoffen – ohne Netz und doppelten Boden, was natürlich auch für den Bereich des Öffentlichen gilt. Wer ohne Scheuklappen und jeder politischen Korrektheit denkt, kommt dann auch zu allen Zeiten zu Ergebnissen, mit denen er öffentlich nicht hausieren gehen kann. Der unabhängig denkende Mensch kann also stets nur theoretisch gewollt sein. Er ist ein hehres Ideal, welches aber spätestens dann fallen gelassen wird, wenn die Erkenntnisse dem kulturellen wie politischen Betrieb im Wege stehen. Wahrhaftig kann und darf der Mensch letztlich nur zu sich selbst sein, was ihn wiederum der Welt entfremdet.

Die Philosophie muß rücksichtslos zum Bedenklichen vorstoßen

Wer das Leben am tiefsten denken will, muß ihm zunächst also erst einmal abhanden kommen. Die meisten Philosophen, so Lisson, würden die Welt jedoch stets nur um des Menschen willen denken, und dies auch, um eben keiner Weltverlorenheit anheim zu fallen. Denn je mehr wir eigentlich denken, desto weniger wären wir überhaupt noch dazu bereit politischen und religiösen Meinungen anzuhängen. Solche Überzeugungen wären denn aus Sicht der Weltverlorenen nur als Ersatzbeschäftigung da, um den eigentlichen Dingen nie auf den Grund gehen zu müssen. Der Philosoph muß hingegen rücksichtslos zum Bedenklichen fortschreiten und darf sich selbst im Denken auch nicht gemein machen.

Für die großen Weltverlorenen ging die Welt darüber hinaus oft nicht nur theoretisch verloren, sondern eben auch ganz praktisch. Als letzte Konsequenz ihres Denkens, sahen einige oft nur noch den Weg in den Selbstmord als legitimen Ausweg aus der für sie als sinnlos erachteten Existenz: so etwa Blaise Pascal (1623-1662), Baruch de Spinoza (1632-1677), E.T.A. Hoffmann (1776-1822), Sören Kierkegaard (1813-1855), Franz Kafka (1883-1924) oder Paul Celan (1920-1970).

Dabei muß jedoch bedacht werden, daß jene den Weg in die Weltverlorenheit nicht primär aus reiner Eitelkeit oder sozialer Unverträglichkeit heraus gingen. Vielmehr dürfte das eigentliche Grundmuster der Weltverlorenheit bei allen ein Charakterzug sein: eine fatale Unstimmigkeit mit sich und der Welt. Spätestens an diesem Punkt, an dem der Selbstauslöschung, sollte man sich jedoch die Frage stellen, ob man denn dem Leben durch eine solche Grundhaltung gerecht wird.

„Wer sich vermehrt, wird vom Leben geführt, wer sich verweigert, führt das Leben.“

Nehmen wir die Liebe: Nüchtern betrachtet, lässt sie sich auf bestimmte Funktionen für den Menschen herabanalysieren. Beispielsweise bindet sie das Elternpaar aneinander, was wiederum der Erziehung des Nachwuchses zuträglich ist und somit im Sinne der Natur liegt. Dann verhält es sich so, daß man das Objekt der Liebe nicht um seiner selbst willen liebt, sondern nur, da man seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte ganz egoistisch in den zu Liebenden hineinprojiziert. Was also nach der Analyse noch von diesem einst hehren Ideal übrig bleibt, ist dessen Bloßstellung als ein billiger Trick der Natur, an den sich die meisten Menschen emotional klammern, da sie die Welt ohne solche Gaukelei schlichtweg nicht ertragen würden. Dies ist zumindest die Lesart, wie Lisson sie für den denkenden Menschen vorschlägt. Andererseits könnte es sich aber auch so verhalten, daß man solche Gefühle als Gleichnis verstehen muß, da man sie ansonsten völlig mißversteht.

Im Science-Fiction-Film Interstellar aus dem Jahre 2014 findet sich der Hauptdarsteller in einer der Schlußszenen plötzlich in einem vierdimensionalen Raum wieder, der für ihn in unser dreidimensionales Verständnis übersetzt wurde – wodurch er dem Menschen überhaupt erst begreiflich wird. Wenn wir jedoch Gefühle wie die Liebe als eine solche Übersetzung einer Kraft verstehen, durch die wir auf etwas Höheres gelenkt werden sollen, dann täten wir der Liebe natürlich unrecht, indem wir sie als einen billigen Trick der Natur abtun. Wir würden dann ihre Formel als ihr Wesentliches betrachten und dadurch den eigentlichen Inhalt völlig aus dem Blick verlieren. Schließlich darf man auch eine Metapher nicht wörtlich nehmen, da man ansonsten ihre eigentliche Aussage nicht mehr versteht.

Metaphysik als „geistig veredelter Unsinn“

Wissen können wir dies natürlich nicht, ob hinter unserer physikalischen Welt noch eine andere existiert. Daran können wir als Menschen stets nur glauben. Dies jedoch auf einer anthropologischen Grundbasis, welche sich auch dadurch beweist, zu allen Zeiten und überall in den Menschen vorhanden gewesen zu sein. Etwa so, als hätte der Erbauer dieser Welt dem Menschen eine Sehnsucht nach ihm mitgegeben, was ihn in dessen Dasein eben doch auf ein eigentliches Sein verweist. Ein strenger Beweis kann hierfür jedoch nicht erbracht werden. Dafür bedarf es letztlich wie immer im Feld des Metaphysischen des Glaubens, weshalb Lisson von der Metaphysik generell nichts wissen will, sondern Beweise verlangt.

Der Mensch droht letztlich irre zu werden, wenn Ich und Welt einander verloren gehen. Aber kann er ihr überhaupt gänzlich verloren gehen? Selbst Lisson schimpft in gewohnter Weise auf die breit angelegte Ignoranz unseres politischen Establishments, obwohl es ihm doch in seiner Weltverlorenheit ganz egal sein müßte. Solange man in der Welt ist, kommt man also eben doch nie gänzlich über sie hinaus.

Frank Lisson: Weltverlorenheit – Über das Wahre im Wirklichen, Karolinger, 2016, 264 Seiten, 24 Euro.

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