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Gogarten lesen! Zum Dilemma des modernen Menschen. Teil 3

Mit den geistigen und folgend politischen Veränderungen und Verwerfungen der Moderne sowie der Gefahr einer damit aufkommenden eigentümlichen Form der Tyrannei befaßte sich, vor allem zwischen den Weltkriegen, auch der Theologe Friedrich Gogarten (1887-1967). Folgende Auszüge aus seinem Werk „Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung“ (Eugen Diederichs, Jena 1932) halte ich für eindringlich und aktuell genug, daß ich sie hier vorstellen möchte. Parallelen nicht nur zu de Tocqueville und Arendt, sondern auch zu Jüngers zeitgleichem „Arbeiter“ sind vorhanden.

Gogarten charakterisiert das zunehmend bestimmende Element als ein dem menschlichen Fassungsvermögen entzogenes, das dem Menschen sich selbst nehme:

Eine namenlose, anonyme, nicht zu fassende, das heißt vor allem andern nicht zur Verantwortung zu ziehende Macht hat sich der Menschen bemächtigt und ihnen ihre Gesetze aufgezwungen. […]

Sie weiß nichts, sie will nichts wissen von der Geschichte, die jeder Mensch hat und ohne die er als Mensch gar nicht zu denken ist und gar nicht leben kann; sie will nichts wissen von seiner Vergangenheit und von seiner Zukunft. Es kümmert sie nicht, wie er geworden ist, und nicht, was später aus ihm werden wird. Sie kennt ihn nur, so wie er jetzt im Augenblick ist, wo er über seine Arbeitskraft verfügt. Nur das, worüber er frei verfügen kann, ungehindert durch Bindungen an andere Menschen und durch Rücksichten auf sie, ungehemmt durch Vergangenheit und Zukunft, nur das will sie von ihm, nur danach fragt sie. Das heißt aber nicht weniger, als daß sie den Menschen will ohne den Menschen.

Dabei erkennt er die Tragik des modernen Wirtschaftslebens und seiner Verstrickungen:

Man kann nicht sagen, es ist das Geld, das diese Herrschaft ausübt. Denn das Geld ist nichts ohne den Menschen, in dessen Hand es ist und der es benutzt. Man kann aber auch nicht sagen: es sind die Menschen, denen das Geld gehört, in deren Hand das Kapital ist, die diese unbarmherzige und seelenlose Tyrannei ausüben. Denn sie unterliegen selbst einem Zwange, der aus einem unzugänglichen Dunkel heraus die Menschen umklammert.

Gogarten sieht den „Syndesmos“, d.h. die vor den einzelnen Personen bereits vorhandene Bindung der Menschen aneinander (auch der Begriff des „Standes“ findet sich in vorliegendem Buch häufiger, allerdings stets in bezug auf ein jeweiliges menschliches Gegenüber), zerstört. Dieser werde „heute auch in seinen allerletzten Resten gut- und böswillig weiter zerstört“ An seine Stelle sei „die willkürliche, vom Menschen selbst geschaffene, berechnete und geordnete, den Menschen als verfügbares Material betrachtende Synthese, die Organisation des menschlichen Lebens, besser des menschlichen Tuns getreten.“

Gogarten widmet sich dem religiösen Hintergrund der skizzierten Vorgänge: seiner Meinung nach liegt ihnen eine Form der Hybris zugrunde: der Glaube des modernen Menschen an seine Selbst- und Weltmächtigkeit:

Der auf seine Aufgeklärtheit so eingebildete moderne Mensch, der mit so unsäglicher Verachtung auf die Menschen früherer Zeiten hinabsieht, die sich den Göttern oder dem einen Gott hörig wußten und in seltsamen, monströsen Kulten um ihre Gunst bettelten – wem dient denn dieser moderne Mensch mit dem hingegebensten Dienst seines ganzen Lebens? Er, der meint, er brauche niemandem mehr zu dienen und die Dienstbarkeit, die Hörigkeit sei für alle Zeiten vom Menschen genommen? Wem dient er denn sonst als jener verborgenen, geheimnisvollen, namenlosen Macht? (…)

Wenn dieser moderne Mensch, wenn wir keinen Götzendienst treiben, dann weiß ich nicht, was Götzendienst ist.

Auf diesem Irrglauben beruht das Beschriebene, die Tyrannei der anonymen Verhältnisse:

Es ist also gerade dieser moderne Mensch, der unter einem ungeheuren Despotismus geknechtet ist; gerade dieser Mensch, der sein ganzes Leben, seine ganze Lebensverfassung und -Ordnung auf die Freiheit, auf die Selbstherrlichkeit des einzelnen Menschen gestellt hat. (…)

Er steckt gefangen in dem Wahn seiner Freiheit.

Gogarten, der „politische“ statt „sozialer“ Lösungen – insofern, als daß die Polis als das vor dem Einzelnen Vorhandene ins Recht zu setzen ist – fordert, hält das „Soziale“ für selbst in diesem Freiheitswahn befangen:

Was heißt das: ‚Sozial‘? (…)

Man meint mit alledem die Wendung, den Kampf gegen jenes System, durch das der Mensch auf so entsetzliche Weise vergewaltigt wird, durch das das menschliche Leben seiner Menschlichkeit beraubt wird. (…)

Und zwar so – das ist das Entscheidende -, daß dem Menschen zunächst seine freie Verfügungsmöglichkeit über sich selbst zurückgewonnen wird. Der soziale Kampf ist seinerzeit begonnen worden im Namen der Freiheit, der Freiheit des Einzelnen, und er wird heute weitergeführt gegen jegliche Hörigkeit und Dienstbarkeit des Menschen.

Man wird sagen können, daß wir auf solchem Wege seit 1932 noch ein nennenswertes Stück vorangekommen sind. Deshalb ist auch Gogartens Mahnung für uns unbedingt hörenswert:

Und wenn wir nicht bald diesen Traum der individuellen Freiheit ausgeträumt haben, dann werden wir in einer Welt erwachen, die von menschlicher Freiheit und von Menschlichkeit nicht mehr das allergeringste weiß. Es ist nicht mehr weit bis dahin.

Daß Gogarten nun gerade nicht blinglings irgendeine Gewaltherrschaft zur Einhegung des zerstörerischen Potentials menschlichen Freiheitsstrebens vorschwebt, ist daraus wohl zu erkennen: es geht um das Wieder-ins-Recht-Setzen der überindividuellen, natürlichen – von Gott gegebenen Bindungen der sündigen Menschen untereinander, in denen allein auf Erden so etwas wie „Freiheit“ bestehen kann. Dazu bedarf es einer angemessenen Ordnung. Die moderne Tyrannei hingegen wird vom Irrglauben der zügellosen Freiheit selbst ausgeübt. „Social engineering“, wie man heute sagen würde, ändert am Grundsätzlichen – der Hybris und ihrer Folgen – nichts.

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