Rezension

Gutmenschen mit Hirn

Wer diesen Titel für einen Widerspruch in sich hält, dem sei „Gestrandet“ von Alexander Betts und Paul Collier als Gegenbeweis vorgelegt.

„Gestrandet: Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist“ ist ein Buch mit vielen Ebenen und alle sind eine Betrachtung wert. Denn dieses Buch erhebt den Anspruch, das weltweite System der Flüchtlingshilfe von Grund auf neu zu überdenken, zeigt bei diesem Versuch jedoch unfreiwillig die Möglichkeiten, vor allem aber die Unmöglichkeiten die heutige Flüchtlingsproblematik innerhalb des bestehenden Paradigmas zu erfassen.

Unter Zeitdruck entstanden

Eine Schwäche muß vorneweg festgestellt werden: Die Autoren Alexander Betts und Paul Collier weisen in der Einführung darauf hin, daß das Buch unter Zeitdruck neben zahlreichen anderen Verpflichtungen entstanden sei. Diese Entstehungsumstände merkt man dem Werk leider an. Gerade einmal 151 Anmerkungen für 304 Textseiten sind nur der quantitative Ausdruck einer bisweilen unzureichenden Recherchetätigkeit, die in vielen Einzelheiten spürbar ist.

Während man Betts und Collier im Kernbereich des Buches, der wirtschaftlichen Perspektive des Phänomens Flucht, eine fundierte Kompetenz keinesfalls absprechen kann, sind die um dieses Gerüst herum strukturierten Teile des Buches bisweilen allzu oberflächlich. So ziehen Betts und Collier etwa zur alleinigen Erklärung der unterschiedlichen Verhaltensweise europäischer Staaten in der Flüchtlingskrise Karikaturen von Nationalcharakteren heran: Die vom Nationalsozialismus verfolgten Deutschen gegen die Ungarn und Österreicher, die sich über die historische Abwehr des Osmanischen Reiches definieren.

Zu breites Thema

Letztlich krankt diese Buch an zweierlei. Zum Ersten ist es zu breit angelegt. Eine rein wirtschaftstheoretische Erörterung wäre den Autoren mit Bravour gelungen. Der Anspruch, das Flüchtlingsthema in seiner Gänze neu zu überdenken, führt sie jenseits der Bereiche, in denen sie fachlich trittsicher sind. Gleichzeitig zieht die Breite des Themas das Niveau der ökonomischen Erörterung herunter.

Ein gewisser Dilettantismus ist allerdings selbst bei größter Anstrengung bei keinem umfassenden Werk zu vermeiden und die Alternative wäre die reine Fachidiotie. In „Gestrandet“ paart sich jedoch dieser unvermeidliche Dilettantismus mit der Weigerung irgendeinen Gedanken zu verfolgen, der in seiner Konsequenz dem antieuropäischen und antiweißen Moralschema des heutigen Linksliberalismus widersprechen würde. Das führt zu der Merkwürdigkeit, daß über das ganze Buch hinweg wichtige Erkenntnisse zur Flüchtlingsproblematik aufblitzen, um gleich wieder alleingelassen unterzugehen.

Massengewalt als Fluchtursache

So bemerken die Autoren gleich zu Beginn, daß sich das heutige Flüchtlingsphänomen der Dritten Welt radikal von den Ostblockflüchtlingen unterscheidet, auf die die Genfer Flüchtlingskonvention ursprünglich zugeschnitten war. Ein heutiger Flüchtling flieht nicht mehr vor persönlicher Verfolgung durch irgendeinen Despotismus, sondern vor Massengewalt in instabilen und gescheiterten Staaten.

Das müßte doch sehr erhebliche Konsequenzen haben? Denn der Ostblockdissident war jemand, der das Pech gehabt hatte, in dem Teil Europas geboren zu werden, der bei der Beuteteilung auf Jalta Stalin zugesprochen wurde und der dort etwas getan hatte, wozu der Westfunk beständig aufrief. Selbstverständlich bestand eine Pflicht ihn aufzunehmen, zumal damit wohl kaum die Gefahr verbunden war, er könnte in seinem Gastland den Kommunismus verbreiten.

Die Flüchtlinge aus gescheiterten Staaten fliehen jedoch vor dem zivilisatorischen Scheitern ihrer eigenen Völkerschaften. Sie sind Teil des Problems und tragen dieses mit sich in alle Staaten, in denen sie sich niederlassen. Die Quelle dieser Flüchtlingsmassen, das sehen auch Betts und Collier, wird im 21. Jahrhundert nicht versiegen.

Das „granitene Fundament“

Auf die ethische Erörterung des Buches hat dies keinerlei Auswirkung. Gegenüber den von Massengewalt Bedrohten habe die „internationale Gemeinschaft“ eine unhintergehbare Schutzverpflichtung. Dies ist das „granitene Fundament“ der Argumentation, welches scheinbar so stabil ist, daß es in einem logischen Sprung die Frage nach der Begrenzung dieser Hilfspflicht explizit (!) überflüssig mache, womit sich die Autoren der auch unter linksliberalen Denkern schwierigen ethischen Debatte zum Flüchtlingsthema wenig gekonnt entziehen.

Dieses „granitene Fundament“ erschwindeln sich Betts und Collier, indem sie die Flüchtlinge mit einem in einen Teich gefallenen Kind gleichsetzen und die potentiellen Aufnahmeländer mit einem Passanten, der seine Kleidung nicht naß machen will. Das ständige Gerede von einem Kind ist hier nur der offensichtlichste Teil der emotionalen Manipulation.

Viel grundlegender ist, daß mit diesem Trick die ganze soziologische Situation eines Passanten in einem Park, die zivilisatorischen Standards, ethischen Normen usw., die hier implizit vorhanden sind, auf einen gänzlich anderen Sachverhalt projiziert werden. Plötzlich reden wir nicht mehr über Flüchtlinge aus der Dritten Welt, sondern über ein Kind in einem Teich.

Quoten in Schulen, Unis und in Wandervereinen

Doch seziert man die ethische Erörterung Betts und Colliers, enthüllt sich ihr Standpunkt. Neben dem „granitenen Fundament“ sind dafür zwei andere Abschnitte zu berücksichtigen. Zum einen die von ihnen benannten Pflichten speziell Deutschlands gegenüber den aufgenommenen Syrern: „Was unbedingt verhindert werden muss, ist eine Diskriminierung der Flüchtlinge durch die Gastbevölkerung.“

Da Diskriminierung oft schwer zu erkennen sei, sollen Quoten her, in den Schulen, in den Universitäten und selbst in Wandervereinen (sic!). Sobald die Deutschen diese ihre Menschenpflicht erfüllt haben, könnte man dann freilich auch über „die strittigste Frage“ nachdenken, ob nicht von Flüchtlingen zu erwarten sei, „so weit wie möglich diejenigen Werte der syrischen Kultur aufzugeben, die mit der heutigen deutschen Gesellschaft radikal unvereinbar sind? Sollen zum Beispiel religiös bedingte Haltungen gegenüber Frauen, Ungläubigen und Glaubensabtrünnigen infrage gestellt werden?“

Neben dieser erhebenden Passage sticht die Behandlung der ethischen Literatur zur Flüchtlingsfrage heraus. Während noch anarchistischen Argumenten die Ehre einer respektvollen Widerlegung zuteil wird, tun Betts und Collier so, als würde die ausgedehnte migrationskritische Literatur schlichtweg nicht existieren.

Der ethische Raum des Gutmenschentums

Nach dieser Vorarbeit können wir den ethischen Raum umreißen, in dem sich „Gestrandet“ bewegt. Die Akteure dieser Ethik sind Personen von der äußersten Linken bis zu Alexander Betts und Paul Collier. Objekte dieser Ethik sind die Flüchtlinge als Anspruchsträger. Europa ist ein großer fetter Schinken, aus dem Betts und Collier zugunsten der Anspruchsträger Scheiben schneiden. Und diejenigen, die etwas dagegen haben, sind nationalistische und populistische Störenfriede, die man gerade soweit ernst nehmen muß, daß sie den selbsternannten Wohltätern nicht das Handwerk legen.

Alexander Betts und Paul Collier sind Gutmenschen mit Hirn, die ihren übereifrigen Kollegen zeigen wollen, wie man organisatorisch besser vorgehen könnte. Auf ihre ökonomischen Argumente werden wir noch eingehen. Doch zunächst ist festzustellen, daß auch auf die Autoren von „Gestrandet“ Manfred Kleine-Hartlages Diktum über Gutmenschen zutrifft: Sie sind keine guten Menschen, sondern Leute, die bereit sind, ihr Volk über die Klinge springen zu lassen, damit es ihrem Seelchen besser geht. Gutmenschentum ist ein Fall moralischer Feigheit.

Das wirtschaftliche Kernargument des Buches besteht darin, daß es Unsinn sei, Flüchtlinge teilweise über Jahrzehnte in Lagern unterzubringen, anstatt sie in die Volkswirtschaften ihrer Gastländer zu integrieren. Der Hauptangriff von Betts und Collier richtet sich gegen die weit verbreitete Praxis von Aufnahmeländern der Ersten-, wie der Dritten Welt, Asylanten die Arbeitserlaubnis zu verweigern.

Verstecktes Problembewußtsein

Daß die Autoren sich der dahinterstehenden politischen Problematik bewußt sind, blitzt aus den mehrmals eingestreuten Bemerkungen auf, wonach sich die jetzige Praxis nicht zuletzt deshalb in der Dritten Welt durchgesetzt habe, weil letztere heute demokratischer ist, als in früheren Jahrzehnten und Politiker selbst in Kenia auf ihre Wählerschaft Rücksicht zu nehmen haben.

Nicht nur Europäer werden ungern von fremden Horden überschwemmt! Und wenn die Fremden einmal in die Wirtschaft integriert sind, dann wird man sie kaum wieder los. Nicht zuletzt, weil dann Interessenkreise von Flüchtlingsgewinnlern entstehen, deren Einfluß den politischen Prozeß verzerrt.

Doch dies interessiert Betts und Collier nicht. Von diesen politischen und existentiellen Fragen ziehen sie sich immer wieder auf das wirtschaftstheoretische Argument zurück, wonach Barrierefreiheit für Wirtschaftsfaktoren das Gesamtbruttoinlandsprodukt steigert. Dieses Theorem allein steht hinter ihrer Parole Flüchtlinge seien als Entwicklungschance zu begreifen.

Lösung: Korrupte Regierungen bestechen

Vor diesem Hintergrund mutet dann der zentrale Lösungsvorschlag der beiden Autoren merkwürdig zynisch an: Die Flüchtlinge sollen in der Masse heimatnah in der Dritten Welt untergebracht werden und die Europäer sollen dafür bezahlen, um den dortigen Regierungen die Integration der Flüchtlinge in ihren Länder schmackhaft zu machen.

Wir sollen also korrupte Regierungen bestechen, damit andere Völker sich mit den Folgen willkürlicher ethnischer Durchmischung herumplagen müssen und wir keine häßlichen Bilder an unserer Grenze haben. Eine realpolitisch praktikable Lösung. Doch ich erlaube mir, die behauptete höhere Moral des Unterfangens in Zweifel zu ziehen.

Lügen durch Auslassen

Als Beweis für die Machbarkeit ihres Vorschlags ziehen Betts und Collier die Integration syrischer Flüchtlinge in jordanische Sonderwirtschaftszonen mit britischer Unterstützung heran. Die beiden Wissenschaftler waren selbst beratend an diesem Projekt beteiligt. Dieses Beispiel müssen wir zuletzt noch betrachten, weil es repräsentativ für den Hang dieses Buches steht durch Auslassung zu lügen.

In Jordanien stellen die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge inzwischen die Bevölkerungsmehrheit. Die jordanische Monarchie stützt sich allerdings auf die alteingesessenen Stämme, aus denen sie Militär und Sicherheitsdienste rekrutiert. Dies ist ersichtlicherweise ein wackliger Zustand und mehrmals standen die Palästinenser kurz davor, das haschemitische Königshaus zu stürzen.

Deshalb sind die syrischen Flüchtlinge den jordanischen Herrschern keineswegs unwillkommen. Zwar fürchtet man soziale Verwerfung und dschihadistische Unterwanderung, doch die Syrer bilden ein Gegengewicht gegen die Palästinenser.

In Jordanien gibt es längst keine demographische Dominanz der Jordanier mehr zu verteidigen. Das Verhalten gegenüber den syrischen Flüchtlingen entspricht durchaus der uralten Strategie des multiethnischen Despotismus: Ein Volk gegen das andere ausspielen, um selbst an der Macht zu bleiben. Von all dem steht in „Gestrandet“ kein Wort. Daß sie es nicht wissen, ist Betts und Collier angesichts ihrer Beratertätigkeit in dem Land kaum abzunehmen.

Betts und Collier sind nicht unfähig

Betts und Collier erklären, wie ein effizienteres Flüchtlingsregime unter dem derzeitigen Paradigma aussähe. Viele ihrer Einsichten dabei sind richtig und daß ihrem Vorschlag nach, nur eine symbolische Anzahl von Flüchtlingen aus der Dritten in die Erste Welt übersiedeln sollten, kann einem Europäer sehr lieb sein.

Und daß auf 135 Dollar für einen Flüchtling in Europa nur 1 Dollar für einen Flüchtling in seiner Heimatregion entfällt, ist eine Absurdität. Ebenso, daß Syrien durch die überproportionale Abwanderung seiner Gebildeten nach Europa nach dem Krieg eines der schlechtesten Bildungsprofile der Welt haben wird. Die Politik der offenen Grenzen hat Syriens Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen. Zahlreiche dieser kleinen Beobachtungen und Überlegungen sind sehr aufschlußreich. Noch einmal: Betts und Collier sind nicht unfähig.

Doch letztlich zeigen sie nur den Bahnhofsklatschern von 2015, daß sie das, was sie machen wollten, auch noch katastrophal falsch gemacht haben. Ein wirkliches Umdenken wird erst dann erfolgen, wenn wir aufhören den Status „Flüchtling“ als Rechtstitel auf eine Landnahme gegen unbeteiligte Dritte zu betrachten.

Alexander Betts, Paul Collier: Gestrandet Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist, Siedler Verlag, München, 2017.

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