Rezension

Hannah Arendt als Sozialdemokratin?

Wenn ein über 50 Jahre altes Textdokument einer längst verstorbenen politischen Philosophin wie geschnitten Brot weggeht und die Bestseller-Listen erobert, dann ist das eine kleine Sensation. Oder nicht? Bei Hannah Arendts erst jetzt veröffentlichtem Essay über „Die Freiheit, frei zu sein“ kommt zudem das überschwengliche Lob der Medien hinzu.

Der Deutschlandfunk hebt etwa die „erstaunliche Aktualität“ der Schrift hervor. Dieses Urteil verblüfft, da Arendt in dem Essay vordergründig an einer Neubewertung der Amerikanischen und Französischen Revolution feilt. Ein Thema, das selbstverständlich hochinteressant ist! Jedoch sieht es unsere Öffentlichkeit längst als Konsens an, daß wir auf dem Fundament von 1789 stehen. Wer hingegen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ablehnt, wird verdächtigt, ein Verfassungsfeind und Ewiggestriger zu sein.

Armut bekämpfen und danach eine funktionierende Zivilgesellschaft aufbauen?

Zwischendrin macht Arendt darüber hinaus einige wenige Andeutungen zu ihrer Sicht auf das Ende des Kolonialismus und die Freiheitsbewegungen der Dritten Welt. Ihre These lautet in aller Kürze: Erst müssen wir die Armut bekämpfen, dann eine funktionierende Zivilgesellschaft schaffen. Bricht dagegen, wie in Frankreich geschehen, eine Revolution zu früh aus, drohen Terror und Barbarei.

Natürlich kann man nun diese Gesetzmäßigkeit auch heute noch entdecken. Die Versuche des Westens, fragile Staaten wie Afghanistan, den Irak, Libyen oder Syrien per „Regime Change“ zu demokratisieren, waren deshalb von vornherein zum Scheitern bestimmt. Allerdings ist das keine neue Erkenntnis. Arendt stößt mit dieser These in keine Lücke vor.

Vielmehr scheint der Essay ein anderes Bedürfnis der etablierten Gegenwartsintellektuellen zu befriedigen. Er gibt ihnen die Möglichkeit, aus der unbequemen Denkerin Hannah Arendt eine nette Sozialdemokratin zu machen, die mit Die Freiheit, frei zu sein eine Anleitung dafür liefert, wie die Welt mit samtenen Revolutionen und vorheriger Wohlstandsförderung verbessert werden kann.

Die Sprache der Notwendigkeit begründet „Alternativlosigkeit“

In ihrem Meisterwerk Über die Revolution (1963) zeigte sich Arendt jedoch viel differenzierter, treffsicherer bei ihren verwendeten Formulierungen und zugleich provokanter. Im Gegensatz zu ihrem neuvermarkteten Kurzessay beschrieb sie dort, wie die Armut der Franzosen „die Sprache der Notwendigkeit“ hervorbrachte, die den Freiheitsgedanken verdrängte und „in der Gewaltherrschaft enden“ mußte. Das Pendant dazu von heute ist Merkels „Alternativlosigkeit“, die es erlaubte, das Recht zu suspendieren, um die Euro-, Klima- und Flüchtlingsrettung durchführen zu können.

Wer von alternativlosen Notwendigkeiten spricht, will damit Zwang ausüben. Genau hier ist Arendt tatsächlich brandaktuell. Ihre Freiheitsvorstellung beruht darauf, daß es in der Politik immer möglich sein muß, unterschiedliche Entscheidungen zu treffen. Wird dies geleugnet, begeben wir uns in eine sanfte Form des Totalitarismus, die auch in einem wirtschaftlich hochentwickelten Land droht.

Arendt hat auch dies durchblickt, obwohl in Die Freiheit, frei zu sein ein ganz anderer Eindruck entsteht. Dieser Essay sorgt somit für das gefährliche Mißverständnis, Wohlstand bringe automatisch Freiheit hervor oder sei zumindest die entscheidende Vorbedingung einer lebendigen Polis. In Über die Revolution heißt es dagegen: „Auf keinen Fall ist auf ein wie immer geartetes Wirtschaftssystem in Sachen der Freiheit Verlaß. Es ist durchaus denkbar, daß das ständige Ansteigen der Produktivkräfte sich eines Tages aus einem Segen in einen Fluch verwandelt“.

Aristokratische Räterepublik

Bereits 1958 hatte Arendt in ihrem Werk Vita activa deutliche Konsumkritik geübt. Die Perfektion des Arbeitens und Herstellens untergrabe das politische Handeln. Wenn Politiker nur noch Versorger sein wollen und die Bürger auch nur noch nach dieser Versorgung verlangen, ist es um die Freiheit geschehen. Um dies zu verhindern, schlug Arendt eine „aristokratische Räterepublik“ vor, in der verschiedene Nachbarschaftsverbände und Berufsgruppen die Meinungsbildung vorantreiben. Sie wollte damit sowohl den schädlichen Einfluß der Parteien als auch der Unpolitischen niederhalten. Nur wer sich für das Gemeinwesen wirklich interessiert und einsetzen will, sollte mitbestimmen dürfen.

Während aus der Freiheit, frei zu sein eine Warnung vor zu radikalem Gedankengut herauszulesen ist, die dem heutigen Mainstream sehr gelegen kommt, hört sich dies in Über die Revolution ganz anders an. Hier spricht Arendt von ihrer „revolutionären Hoffnung“, die Massengesellschaften des Westens zugunsten einer neuen, rätedemokratischen Staatsform umbilden zu können.

Was ist daher von dem neuentdeckten, gehypten Essay zu halten? Er ist eine unreife Frucht, die noch sauer schmeckt. Es fehlt ihm an Differenzierungen und Visionen. Wer jedoch aus diesem Büchlein lediglich ein paar banale Gemeinplätze für alle sozialdemokratisierten Parteien ableiten will, der kann sich gern bedienen.

Wir lernen: Jeder große Denker hat ebenso ein paar mittelmäßige Texte verfaßt. Es gibt aber keinen Grund, sie heute noch zu empfehlen. In diesem Sinne: Finger weg vom Arendt-Fast Food! Greift besser zu Über die Revolution, auch wenn diese 400 Seiten mehr Mühe bereiten!

(Bild: Bernd Schwabe in HannoverCC BY-SA 3.0)

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Geboren 1985 in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz). Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik und BWL in Halle. Lebt in Meißen.

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