Rezension

Jenseits des Kanons (II): Rudolf G. Binding

Manchmal wird es einem erst umfänglich klar, wie groß die kulturellen Verwerfungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg waren, wenn man einen Blick auf Einzelschicksale wirft.

Einzelschicksale, die sich nahtlos ins Große und Ganze der Geschichte einreihen. So auch das von Rudolf Georg Binding, einem Schriftsteller der, einstmals beschrieben als Gentleman-Dichter und Herrenreiter, heute als so unzeitgemäß gelten dürfte wie kein zweiter. Lobten sich die Autoren der Gruppe 47 im Nachkriegsdeutschland ihren amerikanisch abgehackten, journalistisch knapp gehaltenen Hemingway-Stil und einen pseudo-demokratischen Egalitarismus im Sprachgebrauch, war Binding ein Meister der ausführlichen Prosa, der satten Worte, der Schönheit in Überfülle und der großen schicksalsträchtigen Erzählungen.

Gerade deswegen mag er zeitgenössischen Literaturkritikern und progressiv gesinnten Lesern übel aufstoßen. Unwillkürlich werden sie sich daran erinnert fühlen, das Kunst Größe und Bedeutung ausstrahlen und mehr sein kann als ein bloßer Akademiker- und Galeristenzirkus, in dem sich die übersättigte Schicht des linksgrünen Bildungsbürgertums wohlig sonnt und selbst bespaßt.

Innere Leere

Rudolf G. Binding selbst war der 1867 in Basel geborene Sohn des respektierten Rechtswissenschaftlers Karl Binding und hatte so die Möglichkeiten schon in Jugendjahren Geistesgrößen des Kaiserreichs wie beispielsweise Theodor Mommsen kennenzulernen. Dementsprechend groß war die Bürde, die der junge Binding zu tragen hatte, der sich immerzu nur im Schatten seines Vaters stehen sah.

Erst bemühte er sich in seine Fußstapfen zu treten, versuchte sich erst an einem Jura- und dann an einem Medizinstudium, ließ dann aber seiner Reitbegeisterung Vortritt und arbeitete bis in seine späten dreißiger Jahre hauptsächlich als Rennreiter und Pferdezüchter. Gemäß seiner Biographin Traude Stenner hatte er dabei aber immer, schon seit Jugendjahren, eine innere Leere empfunden.
Diese zu füllen, sah er sich erst in der Lage, als er im Laufe eines Aufenthalts in Florenz auf die Lyrik Gabriele D’Annunzios stieß, die er dann probeweise ins Deutsche übersetzte. Der italienische Dekadenzschriftsteller, Nationalist und spätere Kriegsheld zeigte sich unmittelbar von Bindings Übersetzungen begeistert und ließ ihn bald darauf auch seine Dramen ins Deutsche übersetzen.

Erfüllung im Schöpferischen

Für Rudolf G. Binding aber war es mehr als nur eine schriftstellerische Arbeit, es war die Kunde einer nahenden Erfüllung im Schöpferischen, die Stiftung eines Lebenssinnes und Aufhebung der inneren Leere. Nachdem er dann gemeinsam mit seinem Freund Anton Mayer nach Griechenland reiste und dort die Hermesstatue des antiken Bildhauers Praxiteles bestaunen durfte, hatte er, beim Anblick dieser für ihn reinsten und schönsten Kunst, seine eigene Bestimmung gefunden.

Es folgten erste eigene Gedichte, bald Erzählungen, Legenden und Novellen. Darin schlug sich auch immer seine Auseinandersetzung mit dem Schicksal nieder, mit dem Urgrund der Existenz des Menschen und seinem sogenannten Inbild des Menschen. Das Inbild ist bei Binding die Essenz des Menschen, die einem unverfälschten und wesentlichen Kern gleicht und die er in seiner Prosa immer herauszuarbeiten gesucht hatte. So wird man Bindings Charaktere oftmals als nicht unbedingt realistisch empfinden, viel eher scheinen sie einer höheren Wirklichkeit zu entstammen, deren Fülle in Worten nur angedeutet werden kann.

Gleich vier Paradebeispiele für diesen ihm eigenen Stil finden sich in der 1910 bei Rütten & Loening erschienenen Novellensammlung Die Geige, in welcher „Die Waffenbrüder“, „Der Opfergang“ (der 1942/43 von Veit Harlan in Agfacolor verfilmt und somit zu jener ersten Generation deutscher Farbfilme gehörte) sowie „Angelucia“ und „Die Vogelscheuche“ versammelt sind. Die beiden ersten Novellen sind nach dem selben kunstvoll ausgeführten Muster verfasst.

Zu Beginn einer jeden steht die Beobachtung eines Erzählers, sei es die Betrachtung eines niedergebrannten Hauses, dessen einstigen Bewohnern man ein trauriges Schicksal nachsagt oder das Aufmerksamwerden einer einsamen Dame, die wie zu einem Maskenball gekleidet, eine Hamburger Straße zur Zeit der Cholera immer wieder auf und abgeht. Diese kleinen Einleitungen bilden jeweils den erzählerischen Grund für die übergeordneten menschlichen Schicksale im Mittelpunkt der Novellen und gleichzeitig deren tragischen Ausgang.

Unendliche Liebe und Opferbereitschaft

„Die Waffenbrüder“ sind die zwei im Krieg verbrüderten Soldaten Daniel und Thomas, deren Lebenswege sich trotz ihrer engen Freundschaft nach dem Ableben Thomas‘ noch ein Mal auf eine dramatische Art und Weise kreuzen: in einer Nacht, als der letztere seine zukünftige Ehefrau kennengelernt hatte und von ihr verschmäht wurde, war sein Freund Daniel bei dieser eingedrungen, um die Ehre seines Bruders zu retten. Sie aber dachte, es handele sich bei dem nächtlichen Gast um Thomas, verführte ihn und ließ das Übel seinen Lauf nehmen, bis zum düsteren Ende.

„Der Opfergang“ wiederum ist trotz großer Tragik vor allem auch eine Novelle, die von geradezu unendlicher Liebe und Opferbereitschaft zeugt und höchstwahrscheinlich einen biographischen Hintergrund hatte. Darin fühlte sich der Bildhauer Albrecht seiner reichen wie milden Gattin Octavia zunehmend entfremdet und fühlte trotz der eigentlich glücklichen Ehe seine Kräfte ermatten, sodass er schließlich der vor Lebendigkeit und Fruchtbarkeit nur brennenden Joie in die Arme fällt, die ihn seinen Glauben an das Leben wiederfinden lässt.

Als die Seuche auch Albrecht erreicht und er seiner Frau sterbend nur noch den Namen seiner Freundin übermittelt, weiß diese, dass hier höhere Kräfte walten und möchte aus Liebe zu ihrem Mann der ebenfalls an Cholera erkrankten Joie helfen, die bloß durch den täglichen Gruß Alberts genesen kann – sie verkleidet sich also und setzt zum titelgebenden Opfergang an.

Flucht in eine höhere Wirklichkeit

Beide Novellen haben das Schicksal zu ihrem Inhalt, die erste dessen Erfüllung und die zweite dessen Überwindung. Tod und Leben sind hier so natürlich und selbstverständlich verwoben, dass sie im Einklang mit dem menschlichen Leben stehen und keinerlei Anzeichen von Furcht oder Unbeständigkeit darin zulassen.

Die anderen beiden Novellen verknüpft eher eine gemeinsame Grundthematik, denn der Topos der Schicksalhaftigkeit. So geht es sowohl in „Angelucia“ als auch in „Die Vogelscheuche“ um junge Mädchen, die sich, traumatisiert vom Erlebten, der Welt abwenden und in eine höhere Wirklichkeit flüchten.

Bei der jungen Dorothea, von der Mutter getrennt und von der Stadt aufs Land verfrachtet, ist diese höhere Wirklichkeit ihre eigene Phantasie und die Erinnerung an jene Märchen von Rittern und Prinzessinnen, die ihre Mutter ihr einst erzählt hatte. In der Vogelscheuche ihrer Zieheltern findet sie einen Freund, der sie bedingungslos liebt und immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Fragen hat.

Bei Zeiten lebt sie so eng mit ihm zusammen, dass sie glaubt, ihr unbelebter Freund wäre beseelt. Dementsprechend stark fällt dann die Reaktion des Mädchens aus, als ihr Ziehvater die Vogelscheuche auseinandernehmen lässt: Im Affekt beschließt sie, zum Messer zu greifen und den Mord an ihrem Freund zu vergelten.

Die noch im Mädchenalter befindliche Gräfin von Nevers flüchtet sich währenddessen in „Angelucia“ in den christlichen Glauben und hinter klösterliche Mauern, nachdem sie ein grober Freier nachhaltig verstört. Dort geht sie voll und ganz im Glauben auf, wird aber jäh aus ihrem Schwesterndasein gerissen, als ein schöner, namenloser Graf ihr des Nachts erscheint und sie glaubt, ihren Herrn und Erlöser Jesus Christus in ihm zu sehen.

Der Graf wiederum weiß nichts von seinem Glück und glaubt in ihr, die seinem Rufen zum Kreuzzug ins Heilige Land folgt, eine treue Geliebte gefunden zu haben. Erst als die feindlichen Truppen der Sarazenen schon kurz davor stehen, den Kreuzzug grausam niederzuschmettern, offenbart sich dem Grafen die grausame Wahrheit seines Verhältnisses.

Einem der Raserei verfallenen Ödipus gleichend, erlöst er nach der ersten gemeinsamen Nacht seine Geliebte von ihrem unglücklichen Schicksal, die ihm erst da offenbart, für wen sie ihn wirklich hält – so bleibt wenigstens seiner Geliebten die Schmach und Schande der Erkenntnis erspart.

Beide Novellen eint die Unvereinbarkeit der seelischen und der irdischen Welt. Beide Protagonisten müssen sich ihr auf tragische Art und Weise stellen und enden dabei doch auch beide als heldenhafte Märtyrer. Dorothea rächt ihren Freund, die junge Gräfin stirbt guten Glaubens und beide leben ihr Schicksal aus, wenn es auch alles kosten möge.

Front als Erweckungserlebnis

Dieser Maxime hat sich auch Binding Zeit seines Lebens verpflichtet gesehen, so stellte er sich auch dem ersten Weltkrieg, ohne zu hadern oder zu erschrecken. Im Gegenteil sah er im gemeinsamen Fronterlebnis ein nationales und seelisches Erweckungserlebnis nahen, wenngleich seine Hoffnungen schon nach den ersten Jahren bitter niedergeschlagen wurden.

Der Krieg war maschinell geführt, trug nichts edles in sich und nichts menschliches und auf ihn folgte eine Revolution, die Binding nur verachten konnte. Aber dennoch hatte er sich in und an ihm bewährt und verarbeitete seine Erlebnisse im Gedichtband Stolz und Trauer.

Sein Spätwerk ist dann von tiefer und klarer Lyrik geprägt sowie Novellen, die kleine Anekdoten zu prächtigen Gemälden verarbeiten. Besonders eindrucksvoll ist dabei die Landschaftshymne „Moselfahrt aus Liebeskummer“, in der die Wechselwirkungen von Mensch, Kultur und Landschaft malerisch ausgestaltet wurden. Obwohl Binding nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu jener Gruppe von Schriftstellern gehörte, die nicht emigrierten und er im Gegenteil sogar Parteimitglied und stellvertretender Präsident der deutschen Dichterakademie wurde, war der bekennende Patriot nie gänzlich im Faschismus aufgegangen.

Einfach zu gehen kam für ihn genauso wenig in Frage, wie beschwingt mitzumarschieren, stattdessen blieb er stoisch in seinem Amt, in der Laufbahn seines Schicksals und blieb vor allem sich selbst treu. So beschließt er schließlich auch sein Leben 1938 in der selben Schicksalstreue, Furchtlosigkeit und ritterlichen Liebe an das Leben, die auch seine Werke immer wieder durchzogen hatten: „Ich werde nicht in etwas Unvorstellbares münden wie die Ängstlichen, die nicht sterben können. Vixi. Omnis moriar. Ich werde gelebt haben und ganz sterben. Es wird mir genug sein, gelebt zu haben.“

Hier geht es zum ersten Teil der Artikelserie: „Vorsommer“ von Karl Benno von Mechow.

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