Gesichtet

Kaiserreich demokratischer als die Bundesrepublik?

Jüngst erschien auf Tichys Einblick ein Aufsatz, der mir besonders empfohlen wurde.

Also nahm ich mir Tomas Spahns „Wie demokratisch das Kaiserreich wirklich war“ vor. Spahn beweist nicht nur die volksdemokratischen Vorzüge der 1871 für das neubegründete Kaiserreich bestimmten Verfassung. Er stellt die vorgeblich allerbeste deutsche Staatsform aller Zeiten und die von deutschen Intellektuellen verachtete Verfassung des Kaiserreichs nebeneinander und kommt zu einem Ergebnis, das einiges an Sprengkraft besitzt: Das Kaiserreich soll mit Abstand demokratischer gewesen sein als die Bundesrepublik.

Wie demokratisch ist das Grundgesetz?

Das soll kein Erstaunen erregen. Was Spahn als „die demokratischen Mängel der Bundesrepublik“ unter die Lupe nimmt, sind die Abwesenheit einer wahren Gewaltenteilung und das Umsichgreifen einer Parteiendiktatur. Schließlich handelt es sich um Parteien, die höchstens 30 Prozent der abgegebenen Stimmen auffangen, aber dennoch die Exekutivorgane und die Kanzlerschaft sowie die Legislative zu beherrschen ermöglichen. Volksentscheide finden dagegen keine statt.

Die von Spahn kritisierte Staatsform hat dabei so einiges mit dem Grundgesetz zu tun. Die Verfassung, die diesen undemokratischen Mißbrauch erlaubt und absegnet, entstand unter der Fuchtel der westlichen Siegermächte im Gefolge der deutschen Niederlage und Besatzung. In diesem zeitbedingten Zusammenhang ist die Verfassungsart verständlich. Den Besatzern, die die Festschreibung der Klauseln federführend bewachten, bangte vor dem Alptraum eines wiedererwachten Deutschlands.

Entgegen der geläufigen Legende kümmerten sich die Sieger keineswegs um das Aufblühen der deutschen Demokratie. Im Gegenteil, sie strebten die Kontrolle eines gut abgerichteten ehemaligen Feindes an, den sie durch antidemokratische Einrichtungen vergattern konnten. Gar nichts dient diesem Zweck besser als die Schaffung einer Parteiendiktatur, die möglichst ein unerwünschtes öffentliches „Feedback“ ausschließt. Zur Förderung des angestellten, antidemokratisch-demokratischen Experiments wurden zudem noch andere ergänzende Maßnahmen ergriffen. Zu dieser Liste gehören Verfassungsschutzangestellte, die nach „antidemokratischen“ Machenschaften und Meinungsäußerungen suchen.

Die Verfassung von 1871

Die Zeit, in der die Verfassung von 1871 entstand, war dagegen weitaus günstiger, um eine Nationalregierung hervorzubringen. Es ist dabei ganz einerlei, ob die Deutschen es damals ablehnten, ihre Zwangsjacke gegen eine demokratische, volksnationale Verfassung auszutauschen. Spahn zielt darauf ab, eine dauerhafte historische Verfälschung der gegenwärtigen deutschen Herrscherklasse mit Bezug auf die deutsche Staatsgründung 1871 zu widerlegen.

Überflüssig zu sagen, dass wenn er demokratische oder liberale Vorzüge untersucht, die Frage beiseite schiebt, ob eine besondere politische Regelung oder Anordnung 1871 oder 1900 mit der neuesten Fassung der politischen Korrektheit übereinstimmt. Dass Frauen z.B. 1871 nicht für stimmberechtigt erklärt worden waren, widersprach dem damaligen demokratischen Verständnis nicht. Das galt seinerzeit für „alle demokratisch verfassten Staatswesen“.  Spahn: „Insofern gilt oben Gesagtes: Ein demokratischer Mangel ist dieses nur, wenn wir unsere heutige Auffassung zum Maßstab machen, nicht jedoch in der zeitgenössischen Situation.“

Ist der Bundespräsident demokratischer ins Amt gekommen als ein König oder Kaiser?

Spahn tut den Einwand kurzerhand ab, dass eine „demokratische“ Staatsordnung nicht förmlich von einer Erbmonarchie übergeordnet sein konnte. Im neunzehnten Jahrhundert wurden die meisten parlamentarischen europäischen Staaten mit Königen oder Kaisern ausgestattet, denen unterschiedliche ausführende Machtstellungen zugewiesen wurden. Warum, fragt Spahn, ist eine deutsche Monarchie weniger „demokratisch“ als ein ungewählter Präsident, der sein Amt parteigebundenen Seilschaften verdankt?

Für den deutschen Kaiser gelte: „Tatsächlich vereint er zwar Aufgaben auf sich, die heute beim Bundespräsidenten und beim Bundeskanzler getrennt liegen, jedoch konnte er mit Ausnahme der Benennung des Kanzlers keine Entscheidung ohne die Zustimmung der anderen Institutionen treffen. Und auch die Benennung des Kanzlers – das sollte jeder wissen, der ein wenig in die Politik hineingeschnuppert hat – konnte nicht gegen den Widerstand zumindest des Bundesrates getroffen werden.”

Deutscher Sonderweg?

Spahn listet die festgesetzten Schranken des Machtbereichs des „kaiserlichen deutschen Präsidenten“ detailliert auf. Er hebt die verfassungsmäßigen Schritte hervor, die Wilhelm tun mußte, um deutsche Soldaten 1914 aufzubringen und Krieg gegen Rußland und Frankreich anzusagen. Er befaßt sich außerdem mit der Befugnis des deutschen Reichstags, dessen Abgeordnete von allen männlichen Staatsbürgern gewählt wurden, über den kaiserlichen Haushaltsplan entschieden und während ihrer Amtszeit vor Verhaftung beschützt waren.

Spahns Darstellung steht im Widerspruch zu den Ausführungen von Historikern wie Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler, die ihren Lesern und dem deutschen Publikum einen desaströsen deutschen Sonderweg vor Augen führten. Entgegen Winklers Leitmotiv mussten die Deutschen jedoch keinen „langen Weg nach Westen“ zurücklegen. Schon 1871 haben sie sich mit einer verfassungsmäßig abgegrenzten Nationalmonarchie in die westliche Welt eingegliedert. Aus dieser Sicht war Hitlers Staatsstreich eine grelle Abweichung von älteren deutschen Staatstraditionen, die im Zweiten Reich weiterbestanden.

Gewaltenteiung und Monarchie

Obwohl Spahn seine Beweise mit Sorgfalt ausführt, würde ich zwei kleine Korrekturen anbringen wollen. Was er als „demokratisch“ einordnet, ist als „liberalkonservativ“ im Sinne des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts zu bezeichnen. Gewaltenteilung und eine begrenzte, aber nicht erloschene monarchistische Befugnis waren die Wahrzeichen einer solchen politischen Ordnung.

Zum anderen weiß ich nicht, ob die von Spahn auseinandergenommene Staatsform der Bundesrepublik den ärgsten Mangel der gegenwärtigen deutschen Politik darstellt. Nach 1871 bildete sich die Dritte Republik in Frankreich zu einem Parteienstaat heraus und enthüllte viele der Mankos, die auch Merkels Deutschland zugeschrieben werden können. Trotzdem zeichneten sich im damaligen Frankreich keineswegs die strenge Meinungsbewachung, die forcierte politische Korrektheit oder die Abneigung gegen das eigene Volk ab. Wenn die Aufgabe ansteht, Deutschlands postliberale, antidemokratische Regierung sachgemäß einzukreisen, dann muß der Forscher also gewillt sein, weit über ungeeignete Staatsformen hinauszublicken.

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