Gesichtet

Mehr Information = mehr Wahrheit?

Kurvenmodelle sind ziemlich langweilig. Oder manipulativ. Oder zu kompliziert. Oder alles zusammen.

Jeder erinnert sich an seine Schulzeit, als man eine Kurvendiskussion machen musste. X- und Y-Achse, Verlauf der Kurve usw. In der Wissenschaft werden diese meistens so kompliziert, dass niemand außer dem Autor überhaupt durchblickt, aber alle nicken und klatschen, damit ihr Unwissen nicht auffällt.

Lineares Denken

In der „normalen“ Welt stehen die Graphen meistens für irgendwas Politisches. „Straffälligkeit der Zuwanderer so hoch wie die der Deutschen“ oder „Anzahl der Familiengründungen unter Angela Merkel“. Wer’s glaubt. Wenn man sich allerdings Gedanken zu irgendwelchen Themen macht, können diese Graphen durchaus helfen. In der Kneipe sollte jeder einen Stift und ein Papier dabeihaben, um seine kruden Theorien den betrunkenen Uninteressierten zu erklären.

Viele Kurven sind linear. Der normale Mensch geht fast immer davon aus, dass wenn der X-Wert steigt, der Y-Wert um einen anderen Wert steigt (oder sinkt). Jahrhundertelang dachten auch die findigsten Wissenschaftler, dass die Welt linear verläuft: Eine Pflanze wächst jeden Tag um zwei Zentimeter. Also steigt nach 24-Stunden (X-Achse) der Y-Wert um zwei an. Wenn man jetzt jeden Tag einen neuen Punkt markiert, hat man eine genaue Gerade.

Dieser Modelltyp bezieht sich auf viele Lebensbereiche. Wer gut in der Schule ist, bekommt später viel Geld. Wer jeden Tag Sport macht, ist beim Wettlauf um Y-Sekunden schneller. Wer die Grünen wählt, wird jedes Jahr um 5% düm… . Lassen wir das jetzt lieber.

Wer sagt uns, ob Informationen gut sind?

Interessant ist, dass dieses lineare Modell seltener ist, als man überhaupt annimmt. Die Pflanze wächst im Sommer schneller als im Winter, der 1er-Streber bekommt später nur einen durchschnittlichen Job, weil andere Faktoren mit in die Gleichung spielen. Der Läufer, der jeden Tag 20 Kilometer läuft, also doppelt so viel wie sein Konkurrent, laugt seinen Körper derart aus, dass er das Rennen abbrechen muss und selbst die Grünwähler werden irgendwann zu einem Punkt kommen, an dem das Umdenken anfängt. Trotzdem ist in unseren Köpfen dieses lineare Modell verankert. Es liegt in der Natur des Menschen so zu denken.

Was die meisten Menschen auch denken, ist, dass man mit mehr Information, mehr Wahrheit erhält. Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Thema des Beitrages. Das fing bereits in der Schule an: „Jeden Tag eine Stunde Vokabeln lernen!“ und endet beim Rentner „Jede Woche ein gutes Buch lesen“.  Das Stichwort lautet „gutes Buch“. Denn wer sagt dem rüstigen Herren, was ein gutes Buch ist?

Ihm fehlen schlicht und einfach die Informationen. Also macht er sich schlau. Er liest die Sätze im Einband: „Fesselnde Geschichte mit überraschenden Wendungen … Wahnsinnige Spannung und komplexe Moral … Unterhaltung pur. Das Beste Buch aller Zeiten.“ Jeder kennt die Klappentexte der Verlage und jeder weiß, dass sie dazu tendieren absolut übertriebenen Kokolores zu beinhalten. Der Verleger will verkaufen.

„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ (Goethe)

Jetzt stellen wir uns einmal vor, der alte Herr ist gar nicht so raffiniert und gebildet, sondern will es noch werden. Nennen wir ihn Faustus. Ein nobles Ziel. Er hat keine Ahnung von der Welt, geht in einen Bücherladen und liest sich die Klappentexte durch. Zwischen all den besten Büchern aller Zeiten, findet Faustus ein noch besseres Buch absolut aller Zeiten, und geht mit frischer Druckware, frohem Mut und Leselust nach Hause.

Er hat sich „Twilight – Bis(s) zum Morgengrauen“ gekauft. Nach stundenlangen Qualen ist er sich nun sicher: Das Buch ist Mist. Und er ist sich auch sicher: Er ist, als armer Tor, so klug als wie zuvor. Tatsächlich hat Goethe mit seinem Sprüchlein vollkommen Unrecht. Auf zwei verschiedene Arten. Faustus, der so gar kein Vampirromantiker ist, ist gleichzeitig schlechter und besser gestellt. Er weiß jetzt, dass man sich vor Kitschromanen, aber vor allem vor Klappentexten in Acht nehmen muss. Sein Erfahrungswert ist gestiegen.

Informationen, die mehr schaden als nützen

Gleichzeitig ist er dümmer als zuvor geworden. Und dass sogar ganz ohne Falschinformation seitens der schmalzigen Autorin. Denn bald treffen sich seine Freunde im nahegelegenen Seniorenzentrum und wollen ihre intellektuellen Errungenschaften vergleichen. Sein Erzfeind, nennen wir ihn Mephi, hat den Wälzer von Adam Smith „The Wealth of Nations“ durchgearbeitet. Auf diese Idee ist er allerdings nur gekommen, weil er sich bereits Wochen vorher nach den klügsten Büchern und den neutralsten Bewertungen erkundigt hat. Seine Quellen hat er mehrfach überprüft, dementsprechend viel mehr Gesamtzeit investiert als der arme Faustus. Dazu kommt ein fundiertes Grundwissen über wirtschaftliche Zusammenhänge.

Nicht nur anhand der beiden Senioren wird deutlich: Das Wissen steigt nicht mit der eingespeisten Zeit. Wenn ich anfange, ein Buch über Maschinenbau zu lesen um meinen Traktor zu reparieren, werde ich nach einigen Stunden der Lektüre mehr Schaden anrichten als ohne Lektüre. Als vollkommener Laie käme ich niemals auf die Idee einen Motor auseinanderzubauen. Nach dem Buch bin ich immer noch ein Laie, habe aber eine verzerrte Wahrnehmung meines Könnens.

Methode Tagesschau

Schlagen wir den Bogen in die Politik: Die „Methode Tagesschau“ ist eines der Kernprobleme unserer Zeit. Vollkommen unbedarfte und politisch ungebildete Personen konsumieren fünfzehn Minuten manipulatives Wissen und denken anschließend, sie wären „im Bilde“. Diese Annahme ist als falsch anzusehen. Erst nach der intensiveren Beschäftigung mit einem bestimmten Sachverhalt kann man einen positiven Wissensertrag vermuten.

Das war nie anders, allerdings begann erst mit den Medien eine niedrigintensive Beschäftigung mit unterschiedlichsten Themen. Medien verdummen also nicht per se, sondern nur bei kurzzeitigem Konsum. Die investierte Zeit reicht nicht aus, um das gesehene zu bewerten. Wir lesen weiterhin Twilight.

(Bild: Faust im Studierzimmer, Gemälde von Georg Friedrich Kersting, 1829)

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