Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie viele Halbwahrheiten und Fehlinformationen zum Islam selbst unter belesenen und intelligenten Zeitgenossen kursieren. Hier wird deshalb der Versuch unternommen, mithilfe neuerer Literatur einige dieser „orientalischen Märchen“ durch Fakten zu ersetzen.
Manches mag zwar auch unter Experten (noch) umstritten sein (das gilt besonders für die Thesen der sogenannten Saarbrücker Schule, die hier unter Vorbehalt wiedergegeben werden). Doch selbst wenn manche Details durch weitergehende Forschung korrigiert werden sollten, ergibt sich auf jeden Fall ein zutreffenderes und vollständigeres Bild als das der gängigen Mythen.
Mythos 1: „Als monotheistische, abrahamitische Religion steht der Islam in Kontinuität mit Juden- und Christentum.“
In dem Buch Good Bye Mohammed. Das neue Bild des Islam von Norbert G. Pressburg steht der Satz: „Das Christentum ist eine Abspaltung vom Judentum, der Islam eine Abspaltung vom Christentum.“ (145)
Insofern jede Abspaltung auf Elemente dessen zurückgreift, wovon sie sich abspaltet, lässt sich zwar durchaus von einer gewissen Kontinuität sprechen. Wird die Formel von den drei „abrahamitischen“ Religionen jedoch in der Absicht verwendet, eine „monotheistische Ökumene“ zu ermöglichen, dann führt sie in die Irre.
Denn sie verdeckt die diskontinuierliche Natur der Abspaltungen sowie die Spannungen, die sich zwischen den drei Monotheismen zwangsläufig ergeben. Ihrem Wesen nach können die drei Monotheismen nicht unbehelligt koexistieren, da jeder von ihnen den Anspruch erhebt, für alle Menschen gültig zu sein. Dieser universelle Gültigkeits- und Wahrheitsanspruch schließt friedliche Koexistenz im Grunde aus. „Nur tote Ideen existieren in der Form der friedlichen Koexistenz nebeneinander“, schreibt Robert Spaemann in dem Buch Das unsterbliche Gerücht (150).
Das Verhältnis zwischen Juden und Christen war lange Zeit von Spannungen und wechselseitigem Misstrauen beherrscht. Doch geht die Tendenz in der heutigen christlichen Theologie dahin, die Gültigkeit des „Alten Bundes“ zu bejahen, was dem problematischen Verhältnis zwischen Juden- und Christentum vieles von seinen Spannungen nimmt – auch wenn man der Ansicht ist, dass ein vitales Christentum auf der Notwendigkeit der (selbstverständlich gewaltlosen) Judenmission wird beharren müssen.
Der Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage weist in seinem Buch Das Dschihadsystem darauf hin, dass eine Anerkennung der beiden anderen Monotheismen im Islam undenkbar ist. Das liegt bereits darin begründet, dass dem Islam die Idee eines Bundes zwischen Gott und Mensch wesensmäßig fremd ist: Allah ist absolut souverän und nicht an Bündniszusagen gebunden (vgl. Resch, 21f.). Noch schwerer wiegt jedoch, dass der Islam den Anspruch erhebt, „die ursprüngliche Religion Gottes zu sein“ (Kleine-Hartlage, 91). Dementsprechend können Juden- und Christentum dort, wo sie vom Islam abweichen, nur Verfälschungen der „ursprünglichen Religion“ darstellen.
Anders als allgemein angenommen, deutet die Formel von den drei „abrahamitischen“ oder „monotheistischen“ Religionen also nicht die Möglichkeit der „Ökumene“ an, sondern verweist vielmehr auf ein hochproblematisches und explosives Spannungsfeld konkurrierender Universalismen.
Mythos 2: „Der Islamismus ist ein Missverständnis des wahren Islam.“
Immer wieder wird versucht, den Islamismus und den „politischen Islam“ als Verirrung und Abweichung vom „wahren Islam“ darzustellen. Die Trennlinien zwischen Islam und Islamismus werden dabei erstens bei einem politischen Anspruch der Religion, zweitens bei der religiösen Legitimierung von Gewalt gezogen. Beide Trennlinien existieren jedoch nur in den Köpfen der Islam-Apologeten, nicht in der Realität.
Erstens: Der Islam erhebt den Anspruch, sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens zu regeln (vgl. Pressburg, 226f. und 236; Kleine-Hartlage, 13f.; Resch, 52-55), ob öffentlicher oder privater Natur, ob religiöser, wissenschaftlicher, juristischer, künstlerischer oder wirtschaftlicher Natur. So wird das Recht in einem islamischen Staat durch die Scharia bestimmt. Die Wissenschaft muss in Einklang mit dem Koran stehen. Die Kunst muss das religiöse Bilderverbot beachten usw. Der Islam ist also wesensmäßig politisch. Im Gegensatz zum Christentum kennt er keine Trennung von Religion und Politik.
Zweitens: Bei den Anstrengungen zur Verbreitung des Islam spielt Gewalt gegen Andersgläubige eine zentrale Rolle. Wenn ein Christ bei der Missionierung Gewalt anwendet, was leider immer wieder vorgekommen ist, dann verstößt er gegen die Gebote und den Geist seiner Religion. Ein Muslim hingegen handelt durchaus im Einklang mit seiner Religion, mit den Lehren und dem Leben des Propheten Mohammed sowie mit dem Koran, wenn er im Dschihad Gewalt gegen Andersgläubige anwendet.
Jenen Muslimen, die im Kampf gegen „Ungläubige“ ihr Leben lassen, wird gar das Paradies in Aussicht gestellt. Kleine-Hartlage formuliert zugespitzt: „Ein Christ begeht eine Sünde, wenn er Gewalt anwendet, ein Muslim, wenn er es nicht tut.“ (101)
Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Trennlinie zwischen Islamismus und authentischem Islam nicht existiert – dass der sogenannte „Islamismus“ vielmehr eine konsequente Verwirklichung des authentischen Islam ist.
Die Mythen 3 bis 6 erscheinen in Kürze.
Literatur
Flasch, Kurt: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustinus bis Voltaire. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann 2009.
Kleine-Hartlage, Manfred: Das Dschihadsystem. Wie der Islam funktioniert. Gräfelfing: Resch 2010.
Pressburg, Norbert G.: Good Bye Mohammed. Das neue Bild des Islam. 3., überarbeitete Aufl. Norderstedt: Books on Demand 2012.
Resch, Ingo: Islam und Christentum. Ein Vergleich. Gräfelfing: Resch 2011
Spaemann, Robert: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne. 7. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2014.
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