Rezension

Phantasie und Wahnsinn. Der Abgrund des Géza Csáth

Es ist vermutlich nicht übertrieben zu sagen, dass das menschliche Leben ganz grundsätzlich von einem besonderen Verhältnis zur Phantasie geprägt ist. Wir wünschen uns Dinge, fühlen uns zu Dingen hingezogen und handeln in bestimmter Weise, weil wir Vorstellungen darüber haben. Als würde in unserem Inneren eine Art von zweiter Buchführung ablaufen, leitet und treibt uns in manchmal fragwürdiger Weise die Phantasie.

Ich glaube, dass dieses System viel damit zu tun hat, wie wir Kunst begegnen. Kunst ist die konkrete Ausformung dieser Phantasie; die Bildung eines Raumes, in dem die zweite Buchführung ausgeschrieben und gestaltet wird. Jeder kennt diese Momente, in denen uns bestimmte Details in Filmen oder Büchern auf eine Weise fesseln und berühren, die uns im alltäglichen Leben oft schwer fällt.

Distanz zur normalen Welt

Es ist, als würden wir einer höheren Wirklichkeit gegenüberstehen: im Raum der Phantasie gespiegelt erkennen wir in unserer Welt die Bedeutung, die wir erhofft hatten dort schon immer zu finden. Verständlicherweise wird Kunst demnach besonders interessant, wo die Grenzen zwischen ihr und der Wirklichkeit verwischen. Reale Erlebnisse und Gefühle sollen in den Raum der Kunst transportiert werden und zugleich gibt es die Sehnsucht danach, Dinge aus diesem Raum in die wirkliche Welt zu ziehen.

Das Verhältnis zu seiner Vorstellungskraft gibt der Spezies Mensch einen gewissermaßen psychotischen Zug. Ob der Einzelne sich in seiner Phantasie verliert oder sie als Antrieb für reales Leben nutzt, immer ist er auf die Unterstützung dieser, aus seinen Tiefen emporsteigenden, Kraft angewiesen, um überhaupt leben zu können. Und woher kann er bestimmen, wohin sie ihn treibt?

Die Dynamik dieser Wechselbeziehung lässt sich beispielhaft tragisch in dem Werk und Leben des ungarischen Schriftstellers, Arztes und Psychoanalytikers Géza Csáth beobachten. 1887 geboren, zeigte er schon früh kreatives Talent, spielte Geige und veröffentlichte mit vierzehn Jahren erste Musikkritiken, bevor er sich für eine Karriere als Arzt entscheidet. Seine kurzen Erzählungen erinnern in ihrer Morbidität an Vertreter des Fin de Siècle und der Gothic Novels (Edgar Allan Poe scheint als Vergleich nahezuliegen), tauschen allerdings den sprachlichen Bombast gegen einen eher lakonischen Stil, der zuweilen etwas Zynisches hat.

Normale Ungarn, deren Welt zerbricht

Die Charaktere sind normale Ungarn; Studenten, Ärzte, Familien und häufig Kinder, deren Welt auseinanderzubrechen scheint. So schildert in „Die kleine Emma“ von 1912 eine Figur ihre Kindheitserinnerung: Nachdem ihm sein Vater berichtet, wie er in jungen Jahren einmal Zeuge einer öffentlichen Exekution wurde, beginnt die Hauptfigur zusammen mit Freunden, Hunde und Katzen in der Nachbarschaft einzufangen und auf dem Dachboden zu erhängen. In der Schule faszinieren ihn sowohl seine Klassenkameradin Emma, als auch die Brutalität des Lehrers, der sich, an Tagen, an denen die Klasse unruhig ist, nicht scheut eine volle Stunde für körperliche Bestrafungen zu opfern.

Als die Schwester der Hauptfigur sich schließlich mit Emma anfreundet und sie öfters mit nach Hause nimmt, endet die Geschichte abrupt: Der Protagonist und seine Freunde zeigen Emma stolz ihren selbstgebauten Galgen und schlagen ihr vor, sie könnten sie ebenfalls zum Spaß erhängen. Kurze Zeit baumelt das Mädchen leblos von den Dachbodenbalken und die Kinder ergreifen entsetzt die Flucht.

Und so geht es weiter, Geschichte über Geschichte. Csáth zieht einen hinein in eine boshafte Welt, der man doch eine gewisse Poesie nicht absprechen kann. „Mesék, amelyek rosszul végz?dnek“ nennt er einen seiner Erzählbände: Märchen, die schlecht enden. Dass die Figuren in ihrer Pervertierheit fast schon unschuldig wirken, liegt nicht zuletzt daran, dass Csáth nicht psychologisiert. Die Kinder werden von ihrer natürlichen Neugier angetrieben und nicht durch ihre Umstände oder einem Einfluß von außerhalb.

Fast irritierend wirkt es dann, wenn der Schrecken in einigen Geschichten komplett ausbleibt. In „Denkschrift meiner Verirrung“ erinnert sich erneut ein Protagonist an seine Kindheit zurück; konkret an den Badeort, den seine Familie jeden Sommer aufsuchte. Die Verirrung, die dort stattfindet, ist rein wörtlich zu nehmen: Eines Nachmittags verirrt sich die Hauptfigur bei einem Spaziergang, wird jedoch schnell wieder aufgelesen und nach Hause gebracht, wo ihn die Mutter liebevoll versorgt: „(…) sie lächelte nicht einmal; sie sah mich liebevoll an, und in ihrem Blick lag eine so wunderbare, ernste, verständnisvolle Güte, dass ich diese Sekunden nie im Leben vergessen werde.“

Csáth und die Frauen

Irritierend erweist sich auch der Blick in das Tagebuch des Autors. Gleich zu Beginn offenbart er dem Papier, dass er Angst hat, nicht mehr schreiben zu können, es nicht mehr als „Lebensfunktion“ fühlen zu können. Der Kontakt zur Welt der Phantasie scheint abzureißen. So bleibt ihm nur die greifbare Welt, um sich lebendig zu fühlen und in diese stürzt sich der Autor während seiner, von 1912-1913 gehenden, Aufzeichnungen mit einer fast zwanghaften Akribie. Da sind zunächst die Frauen. Sorgsam notiert er alle weiblichen Patienten, an denen er sich in seiner Praxis und während seiner Arbeit in einer Kuranstalt vergeht; bewertet ihr Aussehen, ihre Intelligenz und ihre Reize.

Was Rausch sein soll, ist höchstens eine Angelegenheit analytischen Interesses: „ Besonders an den P-freien Tagen plagte mich sexuelles Verlangen. (…) So kam es dann, dass ich alsbald „faute de mieux“, das Zimmermädchen verführte, eine gewisse Teréz. Mit Kondom stieß ich sie einige Male kräftig, denn sie hatte eine sehr enge Vagina. Die Jungfräulichkeit hatte ihr Sanatarzt Mahler zwei Jahre vorher genommen. Dieses 21jährige Mädchen mit dem mageren, blassen Körper war kein verlockender Bissen, aber wie ihre dummen blauen Augen unter der Wirkung der Wollust entflammten, wie sich ihr Gesicht rötete und sie zu heftigen Gegenbewegungen ansetzte, darin lag schon etwas Interessantes.“
László F. Földényi kommt in seinem Essay „Ein Leben, gelebt im Spiegel des Todes“ zu dem Schluß: „Jedes Ereignis müsste die Leidenschaft speisen; (…) jedoch (…), hinter den fast schon zwanghaften sexuellen Eroberungen versteckt sich nicht ein Lüstling, sondern ein Insektensammler, den weder das Leben noch der Todeskampf der Insekten anzurühren vermag.“

Csáth scheint von seinen Phantasien über Leidenschaft und Intensität fest umklammert zu sein. Sein Handeln ist bis zur Selbstschädigung von ihr bestimmt. Die Umklammerung ist umso wirkungsvoller, weil die Wirklichkeit der Phantasie nie entspricht. Ihr Verhältnis verläuft gegeneinander, nicht ergänzend.

Das Überschreiten von Grenzen

Das andere große Thema des Tagebuchs ist die Drogenabhängigkeit des Autors. Der erste Kontakt mit dem Gift ist einem Leiden geschuldet: aus Angst vor den Folgen einer Apicitis, die ihm 1910 diagnostiziert wird, verbringt er eine schlaflose Nacht. Als das mehrfach eingenommene Brom keine Resultate zeigt, greift er schließlich zu radikalen Mitteln: „Morgens um halb sechs, in den Strahlen einer prachtvollen Frühlingssonne, spritzte ich mir mit der auf meinem Tisch liegenden Spritze von der ebenfalls dort befindlichen Lösung die erste Dosis, 0,02 M.“

Berauscht fühlt er sich im Anschluß nicht, lediglich beruhigt. Doch die Grenze ist überschritten und schon bald entdeckt Csáth, dass das Morphium noch ganz andere Vorzüge hat. In dem Essay „Opium“ erklärt er die Wonne zur Befreierin aus „den Fesseln des Raumes“, indem sie „die polternde Sekundenuhr der Zeit anhält“. Der Rausch ist nicht bloß Betäubung, sondern metaphysische Grenzerfahrung, die zugleich zur Sinnlichkeit wie zur Erkenntnis führt: „Da erkennen wir den tiefen Sinn des Lebens, und die Dämmerungen und Dunkelheiten werden uns klar. Wie zarte und frische Mädchenlippen küssen uns die Stimmen ab. Die Farben und Linien vibrieren in ihrer neuen und alten Natur in unserem Hirn und Rückenmark.“

Im Tagebuch ist davon wenig zu lesen. Mechanisch wird die regelmäßige Einnahme von P(antopon) und seltener M. notiert; im Zustand der längst weit fortgeschrittenen Abhängigkeit häufig gefolgt von der Bemerkung, dass eine „richtige Euphorie“ wieder mal ausgeblieben sei. Der Genuss ist längst zur Qual geworden. Die Verbindung zwischen Phantasie und Leben versagt, und das Tagebuch, als Brücke zwischen beiden Ebenen, verstärkt dieses Leiden noch. Wie Földényi schreibt: „Noch in den leidenschaftlichsten Augenblicken beobachtet er sich; die Leidenschaft also, die uferlos sein müsste, wird reflektiert, gerät zwischen die Anführungsstriche eines verdrehten Lebens. (…) Er (…) schreibt dies alles obendrein nieder, womit er sich selbst endgültig entfremdet.“

Drohender Untergang

Es ist nicht so, als ob der Autor sich nicht bemüht, den drohenden Untergang aufzuhalten. An vielen Stellen im Tagebuch finden sich Pläne, wie er zu einem glücklicheren Leben gelangen könnte. Selbstbeschwörungen, dass er sich das Pantopon endlich abgewöhnen will, zuverlässiger arbeiten will um sich eine sichere bürgerliche Existenz aufzubauen. Er verwarnt sich selbst („Mensch, nimm dich zusammen, sonst gehst du vor die Hunde“), und heiratet 1913 seine Freundin Olga; die einzige Frau, über die er in seinem Tagebuch nie anders als liebevoll schreibt. Doch sind dies flüchtige retardierende Momente in einem Leben, dessen Richtung auf Abgrund steht.

Als Summe bleibt Csáth dann das Leid. Ähnlich wie die Figuren in seinen eigenen Geschichten, entfaltet sich das Grauen aber auch in ihm wie eine natürliche, beinahe unschuldige Entwicklung. Es scheint für ihn selbst lediglich Ausdruck einem allem Menschlichen zugrunde liegenden Grauen zu sein.

Schon mit achtzehn Jahren schreibt er: Des Menschen „ganze Abstammung ist ein zufälliger, perverser Gedanke der Natur; seine Kultur, mit der er namens des Fortschritts die Gattung der geistigen Vervollkommnung entgegenführt, ist nichts anderes als Perversität. Pervers sind unser überwiegend vollentwickeltes Gehirn und die komplizierten Funktionen unserer Gefühlssphäre, pervers ist unsere Vorstellungskraft genannte Eigenschaft, perverse Wesen sind wir selbst (…) Unsere Mutter ist die Kultur, unsere Wiege die Phantasie, unsere Moral die Perversität, und deshalb sind wir eine abnorme Spezies.“

Die Kultur ist pervers und doch zumindest ein kurzfristiger Ausweg. Als Schreibender, der intensiv leben will, aber nichts zu fühlen scheint, ist zumindest sein Schreiben intensiv: „Dieses Gefühl des Geprelltseins ist (…) nicht materieller sondern metaphysischer Art; nur der Besitz der gesamten Welt könnte es beseitigen. Die einzige Möglichkeit dazu bietet das Phantasieren bzw. das Schreiben; durch das Schreiben kann er sich restlos über die ganze Welt erheben, in dem er sich nicht in deren Einzelheiten verliert, sondern sie von außen zu betrachten vermag “, bemerkt Földényi.

Ende im Sanatorium

Im realen Leben gleicht Csáth jedoch immer mehr einer Figur aus seiner eigenen Literatur. Der Drogenmißbrauch nimmt ihm die Motivation zum literarischen Schreiben und lässt ihn in den Jahren vor seinem Tod nur noch wissenschaftliche Artikel verfassen. Schließlich wird er in ein Sanatorium eingeliefert um sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, was misslingt. Während des Krieges wird er kurzzeitig als Arzt eingezogen und bald wieder entlassen, da sein Drogenproblem bekannt wird.

Spätestens ab 1919 zeigen sich erste handfeste Symptome einer beginnenden Schizophrenie: Er fühlt sich verfolgt, fürchtet, jemand plane ihn zu erstechen. Er wird in eine Psychiatrie eingewiesen, aus der er im Juni 1919 flieht, sich nach Hause begibt und seine Frau Olga erschießt – im Wahn fest davon überzeugt, sie hätte ihm ihre Liebe nur vorgespielt.

Er wird erneut in die Klinik gebracht, kann jedoch im September nochmals fliehen. Als er, auf dem Weg nach Budapest, an der Grenze von serbischen Soldaten angehalten wird, schluckt er kurzerhand sämtliche Medikamente, die er bei sich trägt und stirbt im Straßengraben.

Eine Handlung, die, nach seinen eigenen Worten, eine finale Flucht in Richtung Phantasie und Intensität bedeutet, hatte er doch fünf Jahre zuvor in einem wissenschaftlichen Aufsatz beschrieben: „Der Selbstmord – das ist der mächtigste Lebenswunsch, das Wirken eines primären Lebensinstinktes, der Kompromisse am wenigsten duldet. Denn was kann das gierige Verlangen nach Leben, das intransigente Streben nach dem Optimum besser beweisen, als dass wir nicht weiterleben wollen, wenn wir Vermögen oder Ehre, Gesundheit oder Liebesglück verlieren? Als dass wir uns nicht mit dem relativen Optimum zufrieden geben, das die stiefmütterlichen Umstände zulassen, sondern nur mit dem meisten, dem idealen Optimum? Das ist klar und deutlich, nicht wahr? Der Selbstmord ist in der Tat prägnantestes und intensivstes Leben und Lebenwollen. Glühendstes, gierigstes Leben.“

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