Rezension

Plattformen zerstören Gemeinschaften

Der Philosoph Christoph Türcke, der von 1995 bis 2014 in Leipzig lehrte, zählt zu den klügsten Denkern, die Deutschland gegenwärtig zu bieten hat.

Insbesondere möchten wir von ihm die Bücher Heimat. Eine Rehabilitierung (2006) sowie Digitale Gefolgschaft empfehlen, das 2019 bei C.H.Beck erschien. Es gibt auch einen Verbindungsstrang zwischen beiden Büchern: In Heimat seziert Türcke die Bedeutung der einzelnen kollektiven Identitäten und schildert, wie die Globalisierung das Heimatgefühl und die Statik der Nationalstaaten verändert.

Konfiguration des Zugehörigkeitsempfindens

Er stellt dabei fest: „Das internationale Geschäft lebt von einem Herd heimatlicher Emotionen, die es kanalisiert, aufbläht und ausbeutet.“ Für die großen, globalen Plattformen des Internets, die seitdem Milliarden von Menschen „angesaugt“ haben, wie es Türcke ausdrückt, gilt das gleichermaßen. Sie prägen Gewohnheiten und konfigurieren damit das Zugehörigkeitsempfinden neu.

„Die Nutzer entstammen Familien, Gemeinden und Staaten. Sie gehören Institutionen, Firmen, Vereinen, Religionsgemeinschaften an. Aber im Sog der Plattform treten all diese Zugehörigkeiten zurück. Hier ist jeder nur noch Nutzer.“ Für die Wirtschaft, das Bildungswesen und die Öffentlichkeit hat dies gravierende Folgen, weil die Plattformen alle Subsysteme unserer Gesellschaft informalisieren.

Das Gastgewerbe werde z.B. bedroht von losen Netzwerken wie Airbnb, die darauf setzen, daß jeder Nutzer Teilzeitvermieter werden kann. Doch dabei bleibe es nicht: Letztendlich stehe sogar die Schule als Institution zur Disposition. Ist die „flächendeckende Versorgung der Schulen mit Computern“ erst einmal abgeschlossen, dürften die nächsten Schritte der Virtualisierung folgen, befürchtet Türcke.

Die Abschaffung der Schule

„Wenn Postfilialen in Supermärkten Platz finden, warum soll es dann nicht Schulfilialen in Firmen- und Verwaltungsgebäuden geben: Räume und Nischen, wo pädagogisches Hilfspersonal Aufsicht führt, Lernbegleiter zu gezielter individueller Beratung stundenweise hinzukommen und die Verköstigung durch die Werkskantine mit übernommen wird?“

Am weitesten fortgeschritten ist diese Informalisierung zweifelsohne in der Medienbranche. Das Fernsehen und die etablierte Presse haben ihr Meinungsmonopol verloren. Die „Prosumenten“ der sozialen Netzwerke geben inzwischen den Takt vor. Doch wer bezahlt sie? Abgesehen von einigen Instagram- und Youtube-Stars geht die Masse leer aus, obwohl sie täglich Nachrichten, Bilder und Videos produziert als auch weiterverbreitet.

Türcke zufolge ist dies kein Übergangsphänomen. Vielmehr entstehe aus dem Kreis der Nutzer, die sich in die Abhängigkeit einer Plattform begeben haben, ein neues Prekariat. Der Grund dafür: Es gelinge nicht, aus einem Empörungsschwarm „dauerhafte soziale Gebilde mit verbindlichen Zuständigkeiten“ zu generieren. „Die Gegenöffentlichkeit, die hier Zuflucht findet, droht auszubrennen, statt Wurzeln zu schlagen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Recherche D, Heft 6

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