Rezension

Sieferle: Epochenwechsel (II)

Schon im neunzehnten Jahrhundert übernahmen die Deutschen mit Vorbehalten freundliche Grundhaltungen gegenüber dem Westen. Und als sie suchten, das Entlehnte sich zu eigen zu machen, zum Beispiel eine ungefähr kapitalistische Wirtschaft, brachten deutsche Zeitkritiker zwiespältige oder abfällige Urteile über die aus dem Westen importierten Neuerungen zum Ausdruck.

Von deutschen Sozialisten bis hin zu Deutschnationalen wurde gegen die schädliche Wirkung des „Manchestertums“ auf eine geschlossene deutsche Gemeinschaftlichlichkeit gewettert. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der totalen Niederlage der Deutschen gingen die Alliierten dann daran, die Deutschen im Ganzen umzuformen und ihnen jedwede positive Nationalidentität zu entziehen. Das Sozialexperimentieren wurde durchgreifend eingeführt und bewirkte bei den Unterlegenen eine verstiegenene Art der Selbstentfremdung, die noch nicht verflogen ist.

Schuldkult und Vielfalts-Kreuzzug

Nach Sieferles Auffassung besetzen die heutigen Deutschen zwei abartige Rollen: als schuldhafte Nation, die ihre unauslöschlichen Sünden nie fähig ist gänzlich zu verbüßen; und eine auf die Spitze getriebene Sendung als Kreuzzügler-Nation, die im Zeichen der vielfältigen Gesellschaft nicht nur die eigene Identität fast klaglos aufgibt, sondern auch den restlichen Westen zu ihrer weltbürgerlichen Mission zu überreden entschlossen ist.

Der Ansatz zur Wiedervereinigung der zwei deutschen Restnationen nach dem Zusammenfall des Sowjetreichs wurde von beschwingten oder gefühlsduseligen Ausgüssen des Universalismus seitens der deutschen Regierung und Publizistik begleitet. Auf diese schuldhafte Nation kommt vermeintlich die Aufgabe zu, für eine Vergangenheit, die im Dritten Reich unvermeidbar einmünden soll, Abbitte bis in alle Ewigkeit zu leisten. Zu diesem verlängerten Sühneritus gehören die Aufschließung der deutschen Grenzen und die Begrüßung von Millionen Moslems und verschiedener Afrikaner, deren Siedlung in Deutschland das deutsche Eigenwesen zum Entzücken der in- und ausländischen Journalisten und Politiker weiter zermürbt.

Vernünftige Linke und enthemmte Linke

Mitsamt seiner Klarstellung dieser deutschen Kummersache, die seinen Freitod mitbedingen mußte, greift Sieferle in seinem Band andere anregende oder störende Stoffe auf. Er packt die gähnende Kluft zwischen „vernünftigmachenden“ Reformplänen und eine trieblebensorientierte Zukunftsvision in einer ausführlichen Besprechung der widerstrebenden Tendenzen der antibürgerlichen, postnationalen Linken an. Sieferle kann nicht einsehen, wie eine Linke, die auf Sinnengenuss und individuelle Willkür eine Prämie legt, mit einer straff geregelten „verwissenschaftlichten“ Sozialordnung zu versöhnen ist. Ungeachtet eines langjährigen Widerstreits zwischen konkurriernden Linken, den Sieferle schon im neunzehnten Jahrhundert beobachtete, meint er, daß die Spaltung widerstrebender Linker mit dem Sieg eines Kultes des sexuell Enthemmten zur Neige gelangt.

Mit dem Zusammenfall des Sowjetkommunismus, der erodierenden Glaubigwürdigkeit des orthodoxen Marxismus und der Einwirkung einer westlichen Konsumgesellschaft wird die „vernünftigmachende Linke“ durch einen gegen jedwede Verklemmung angehenden Gegenspieler überlagert. Die Frankfurter Schule oder eine Spielart ihres triebhaften Radikalismus lässt grüssen!

Es bleibt aber offen, ob diese von Marcuse und Adorno beseelte Linke jetzt einen Siegeszug feiert. Dagegen sei zu halten, daß staatliche und erzieherische Erzwinger der politischen Korrektheit und in Deutschland des zugespitzten Antinationalismus die Entladung aller verpönten Gefühle seitens der autochthonen weißchristlichen Bevölkerung drohend bewachen. Diese Tugendwächter hängen der einzigartig schuldhaften deutschen Nation einen Maulkorb um und diskriminieren alle abweichlerischen Äußerungen.

Linksliberal ist nicht länger liberal

Wem das Recht zusteht, seine Gefühle kundzugeben, wird der Verwaltung, den Medien und dem Bildungssystem anheimgestellt. Eine großzügige Erlaubnis dagegen entfällt auf staatlich beschützte Minoritäten, ihren Ärger an anderen weniger Begünstigten abzureagieren. Überdies werden die Ausschreitungen von verhätschelten Minderheiten manchmal nachgesehen. Doch die Anwendung dieses Doppelmaßes besagt keineswegs, daß die verwaltende Linke jedem Michael einen Freibrief stattgibt, seinen Impulsen und Empfindungen freien Lauf zu lassen.

Daran liegt kein Zweifel, daß Sieferle, der auf eine preußische, streng geordnete Gemeinschaftlichkeit sehentlich zurückblickt, die Maßloskeit der geläufigen Kultur bedauert. Bei alledem beweist er nicht zu meiner Befriedigung, daß eine siegreiche Linke eine genießerische, seelisch entgrenzte Lebensweise für jeden beliebigen Staatsbürger fördert.

Sieferle stellt auch den Widerspruch zwischen einem auf dem Nationalstaat fußenden Wirtschafts- und Staatsprinzip und dem unaufhaltsamen Drang nach Globalisierung heraus. Das Herzstück seiner einsichtigen Betrachtungen bildet dieser Teil seines Großessays. In Hegels Fußstapfen behandelt er wohlwollend den im neunzehnten Jahrhundert seinen Anflug nehmenden und bis Mitte des letzten Jahrhunderts gedeihenden Nationalstaat. Ohne Hegels Worte zu bemühen, würdigt er diese Staatsform als Gipfel des menschlichen Zusammenseins.

Nationalstaat und Globalisierung

Aber dieser einordnenden Geschichtserscheinung sind die Staatbürger immer mehr entrückt, als sie dem Druck der Globalisierung ausgesetzt werden. In der Spannung zwischen Nationalstaatlichkeit und einer nicht mehr schleichenden sondern voraneilenden globalisierenden Wirtschaft wird die erstere zu einer unausweichlichen Niederlage verurteilt.

Sieferle untersucht mit Akribie die wahrscheinlichen Auswirkungen der fortlaufenden Globalisierung, die  den schwächelnden Nationalstaat immer mehr entkräftet. Er hat recht, daß die Globalisierungsverlierer in den einstigen Wohlstandsländern einer schon abgeknacksten Nationalstaatsstruktur aufs engste verbunden sind. Mittels staatlich versorgter Leistungen und Schutzzölle gegen einen globalisierten Markt können die finanziell bedrohten Arbeiter noch zur Zeit durchkommen.

Leider kann dieser Schutz keinen Bestand haben. Die globalisierten Unternehmen werden sich nach weniger entwickelten Ländern verlegen, wenn sie im Westen übermäßig besteuert oder verhindert werden, eine billige Arbeiterschaft zu importieren. Meiner Betrachtung nach besetzt Trump, mit seinem Appell an die bedrückte einheimische Arbeitermasse einen ausgeprägten Pol in diesem Spannungsfeld. Mittlerweile besetzen die deutsche Herrscherklasse und unsere Neokonservativen  mit ihrer uneingeschränkten Empfänglichkeit für die Globalisierung im wirtschftlichen Bereich und Werbemachen für Einwanderung aus der Dritten Welt den entgegengesetzten Pol.

Bei den Amerikanern zeichneten sich die Globalisierungsverlierer dadurch aus, daß sie sich hinter dem protektionistischen Präsidentenkandidaten Trump solidarisch verschanzten. Ebenso wie in Europa ahnt die amerikanische Arbeiterschaft, daß die nach der Dritten Welt fliehenden Stellen und Lohngelder auf ihre Kosten sich auswirken müssen. Nicht weniger schädlich für sie wird die weitere Einwanderung der Ungelernten oder Weniggelernten aus relativ unentwickelten Länder, die für einen Pappenstiel sie freisetzen könnten.

Fehlende Rezepte gegen die Spielregeln des Weltmarktes

Zur Abwehr gegen ausländische Konkurrenz, so Sieferle, neigen die Arbeiterschaft einer Art Autarkie oder einem gedämpften Nationalsozialismus zu, die sowohl ihre Leistungen und Löhne wie auch einen Innenmarkt für ihre Güter absichern soll. Aber auch das liefert nur notdürftig Hilfe. In Hinblick auf die Sachlage tut die Umsetzung eines geschlossenen Gesellschaft-Vorbilds recht wenig, um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Erzeugnisse auf dem Weltmarkt zu gewährleisten.

Endlich muss der staatlich eingehegte Arbeitsraum zwei Hindernissen begegnen: Zum ersten, dem Schwund an Absatzaussichten auf dem Weltmarkt mit der darauffolgenden Verringerung des Steueraufkommens, aus welchem die für Staatsbürger versprochenen Leistungen ausfließen soll; und die Sache weiter erschwerend, die Flucht der belästigten Globalisierungsgewinner nach billigeren Arbeitskräften und gelegeneren Anlagemöglichkeiten in der Dritten Welt.

Infolgedessen werden tendenziell die Löhne der in die Klemme geratenen Arbeiter in den Wohlstandszonen und diejenigen ihrer Mitbewerber in jetzt relativ armen Ländern die Parität erreichen. Was die dahinsiechenden Nationalstaaten gegen diese Tendenz auszurichten vermögen, kann nur kurzfristig Abhilfe schaffen.

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