Gesichtet

Teilzeitleviathan und Anarchotyrannei

Thomas Hobbes umreißt in den ersten zwei Teilen seines Leviathan eine Gesellschaftsordnung. In dieser ist der Einzelherrscher mittels Gewaltandrohung und nötigenfalls Anwendung dieser in der Lage, die Aufrechterhaltung eines friedlichen Zusammenlebens aller Gesellschaftsmitglieder untereinander sicherzustellen.

Durch die verstandesmäßige Abgabe der in dem Hobbes’schen Naturzustand vorhandenen Freiheiten jedes Einzelnen, auch jene, nach Belieben andere anzugreifen, soll diese Machtfülle sichergestellt werden. Begründet ist dies durch das Menschenbild Hobbes‘, das den Menschen als von Furcht vor etwas, Verlangen nach etwas getrieben und von Vernunft zu und über etwas geleitet darstellt.

Sicherheit und Freiheit

Der Mensch trachte nach Hobbes lediglich aus Furcht vor Gewaltanwendung oder anderweitiger Einschränkung durch andere danach, selbst Gewalt anzuwenden. Daher sei ein allmächtiger Herrscher, der das vollumfängliche Gewaltmonopol habe, imstande, durch eben dieses alle Untertanen zu Gewaltlosigkeit zu zwingen und dadurch vernünftig begründbar Gewalt zu verhindern und die in diesem Rahmen gesetzten Freiheiten zu ermöglichen.

Hobbes, der selbst durch die Zeit des Bürgerkrieges zwischen den Cavaliers und den Roundheads, dem damit einhergehenden Chaos, der Gewalt sowie der Schutzlosigkeit gegen Gewalteinwirkungen Fremder ausgesetzt war, entwirft verkürzt gesagt einen Staat, dessen Spitze einige Freiheiten der Bürger für sich beansprucht, um eben jenen Bürgern Sicherheit zu garantieren. Ich möchte an dieser Stelle einwerfen, dass ich keineswegs ein Befürworter eines Hobbes’schen Staates bin und bei dem chinesischen System zur Bewertung von Bürgern beschleicht mich ein überaus ungutes Gefühl.

Kein Mörder trotz eines Mordes?

Dies ist eine Aufgabe, die auch heutige Staaten für sich beanspruchen. Dennoch ereignen sich in westlichen Staaten haufenweise vermeidbare Fälle, in denen der Staat trotz scheinbar bestehender Möglichkeiten nicht in der Lage ist, schwerwiegende Verbrechen zu verhindern oder zumindest die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Zwei Fälle aus Deutschland geben beispielhafte Einblicke in diese Abgründe. Das eine Verbrechen geschah 1981. Eine 17-jährige Frau wird auf dem Heimweg von einem Täter vergewaltigt und anschließend mit mehreren Messerstichen und durch das Durchtrennen ihrer Kehle getötet.

Der Hauptverdächtige wird aufgrund eines Gutachtens in zweiter Instanz freigesprochen. Doch mehr als dreißig Jahre später wird mittels einer DNS-Analyse festgestellt, dass es überaus wahrscheinlich ist, dass der damalige Hauptverdächtige auch tatsächlich der Täter ist. Nur verurteilt werden kann er nicht mehr und darf auch nicht Mörder genannt werden, da er bereits freigesprochen wurde.

In dem anderen Fall töteten ein libanesischer Vater, sein Sohn und ein Freund des Sohnes den zuvor in einen Hinterhalt gelockten Vergewaltiger ihrer Tochter bzw. Schwester. Vorangegangen war dem, dass Vater und Sohn den Täter in Sozialen Netzwerken aufgespürt hatten. Die Polizei, die von der Vergewaltigung und der konkreten Anzeige gegen den Vergewaltiger wusste, hatte nichts wirkungsvolles getan um ihn zu fassen.

Im Nachgang wurde der Vater zu lebenslanger Haft (max. 15 Jahre), der Sohn zu acht Jahren Jugendhaft und der Freund zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die durchaus harte Strafe für den Vater wurde mit niederen Beweggründen begründet. Wo bitteschön, und damit möchte ich keinesfalls Selbstjustiz gutheißen, soll denn die Rache für eine Vergewaltigung ein niederer Beweggrund sein? Darüber hinaus gilt, gerade im Hinblick auf den ersten Fall, wenn es dem Rechtssystem darum geht, dass ein Täter für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen werden soll, wieso jemand, der ein derart schwerwiegendes Verbrechen begangen hat, nicht dafür belangt werden kann?

Gängelung wegen Bagatellen, Harmlosigkeit bei Verbrechen

Auch hier möchte ich nicht gegen die Rechtssicherheit, also unter Anderem einer juristischen Unmöglichkeit mehrfach für dasselbe Vergehen verurteilt zu werden, argumentieren. Doch ganz offensichtlich läuft nun ein rein forensisch im Großen und Ganzen der Tat überführter Verbrecher frei herum. Gelinde gesagt hat mein ohnehin nicht allzu starker Glaube in die deutschen Sicherheits- und Rechtsorgane Schaden davongetragen. Einerseits werden seit über einem Jahr massenweise Menschen aufgrund häufig wechselnder Coronamaßnahmen wegen Kleinigkeiten, deren medizinische Wirksamkeit in Fachkreisen umstritten ist, gegängelt, andererseits können bekannte kriminelle Familienclans eine erschreckend große Anzahl von Straftaten, welche von Behörden und Presse dem Clanmilieu zugerechnet werden, begehen, ohne dabei zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die Mitglieder der Gesellschaft, welche in diesem Punkt ganz Hobbes entsprechend zuerst einmal in Sicherheit leben wollen, um auf dieser Basis aufbauend weiter handeln zu können, sehen sich völlig zu Recht durch diese Vorgehensweise der Sicherheitsorgane um ihr Recht gebracht.

Anarcho-Tyrannei in der Innen- und Außenpolitik

1994 veröffentlichte Samuel Francis den Artikel Anarcho-Tyranny, in dem er das oben genannte Problem erörterte. Francis charakterisiert ein Vorgehen der Sicherheitsbehörden, die wegen kleineren Vergehen, die er keinesfalls gutheißt, oder gar Missverständnissen unauffällige, wenig gefährliche Bürger, die brav ihre Steuern zahlen, in unverhältnismäßig harter Art und Weise gängeln und abstrafen. Die Verantwortlichen für sehr viel größere Vergehen werden jedoch erschreckend häufig verschont. So wird etwa ein Käufer von kinderpornographischem Material in den USA für den Kauf an den öffentlichen Pranger gestellt und abgeurteilt, während die Hersteller desselben, aufgrund dessen, dass sie sich im Ausland befinden, nicht belangt werden.

Über die Jahre hat der Begriff der Anarchotyrannei Einzug in verschiedene Diskurse gehalten. Eine Form davon besteht in der Ansammlung von großer Macht und gleichzeitig chaotischen Zuständen. Beispielsweise wenn eine Streitmacht ein Land besetzt, sich aber noch keine Nachkriegs- bzw. Besatzungsordnung durchgesetzt hat. So etwa beim Einmarsch in den Irak, bei der es nach dem Sturz der irakischen Baath–Herrschaft zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, stark zunehmenden ethnischen Konflikten und ausufernden Clanfehden, sowie überbordender organisierter Kriminalität kam.

All dies, obwohl die zu diesem Zeitpunkt vermutlich schlagkräftigste Macht der Welt, nebst anderen einflussreichen Staaten, einen großen Teil ihres Gewaltpotenzials im Zweistromland zusammengezogen hatte. Bemerkenswert ist, dass antiamerikanische Umtriebe von dieser Streitmacht allerdings meist gut in Schach gehalten werden konnten. Anzumerken ist, dass Francis im Gegensatz zu anderen Denkern diesen Fall aus der Begrifflichkeit der Anarchotyrannei ausschließt.

Der Kampf gegen Regierungskritiker

Doch für viele westliche Staaten, die mehr oder minder der Anarchotyrannei anheimgefallen sind trifft jener Fall nicht zu. Neben der moralischen und gesetzlichen Beschneidung von Möglichkeiten, gegen ernsthafte Kriminelle, besonders kriminelle Gruppen, vorzugehen, besteht hier ein Zusammenschluss von Sorge vor Konsequenzen gegen die Sicherheitsorgane, sollten diese dennoch losschlagen, der Befürchtung, dass die harte Arbeit ohnehin nichts bringt, und schlichter Unfähigkeit und Faulheit.

Darüber hinaus können einige kriminelle Akteure nicht dingfest gemacht werden, da sich diese außerhalb des Handlungsraumes der Behörden befinden. Stattdessen werden diejenigen der staatlichen Gewalt ausgesetzt, die am wenigsten dagegen tun können. Denn so kann das Versäumnis an anderen Stellen scheinbar kompensiert werden. Durch die plakative Durchführung derartiger Einsätze kann Stärke dargestellt und ein Versuch, das Vertrauen der Bevölkerung zu erhalten oder zumindest wiederherzustellen, unternommen werden.

Auch der Frust und die Wut über eine nur allzu oft vorherrschende Wirkungslosigkeit des so hochgelobten Rechtsstaates bei den Einsatzkräften selbst kann in solchen Einsätzen, bei denen es schnell zu unverhältnismäßigem Gewalteinsatz kommen kann, zumindest teilweise abgebaut werden, schließlich hat man ja was getan und es den Bösen so richtig gezeigt. Zudem können instrumentell und physisch gewalttätige Gruppen verschiedener Lager sich gegenseitig in Schach halten und dadurch dem Staat eine Atempause verschaffen.

Als vierte, nicht unwichtige Kompensationsmöglichkeit können sich derartige Einsätze gegen Kritiker der Behörden und des Staates im Allgemeinen richten. Denn einmal angeklagt, meist nicht aufgrund der geäußerten Kritik, lässt sich so mancher Querulant zum Schweigen bringen. Freilich lassen sich alle diese Einsätze nur dann durchführen, wenn der Erwartungsdruck auf die ausführenden Kräfte besonders groß ist, oder der Widerstand derjenigen, gegen die sich derartige Einsätze richten, nicht zu groß ist. Mit rechtsstaatlichem Handeln, also dem Einhalten von Recht und Gesetz, hat das alles eher wenig zu tun.

Loyalität als Ergebnis von „soft power“

Ein weiterer instrumenteller Vorteil der Anarchotyrannei für die, die sie ausüben, besteht nach Francis darin, dass die gesetzestreuen oder nur minimal kriminellen Bürger stärker an den Staat gebunden werden. Diejenigen, die sich durch Strafen, die ihnen bei kleineren Vergehen drohen und dem gleichzeitigen Damoklesschwert der nur teils gebremsten ernsthaften Kriminalität unsicher fühlen, können nicht im Rahmen ihrer Selbstverteidigung handeln.

Stattdessen müssen sie sich an den Staat wenden. Das Urteil darüber, ob nun tatsächlich die Bindung der unbescholtenen Bürger an den Staat durch eine Anarchotyrannei, absichtlich oder durch Unfähigkeit verursacht, gestärkt oder aber geschwächt wird, bleibt jedem selbst überlassen.

Es sei schlussendlich darauf hingewiesen, dass gewisse Formen der Anarchotyrannei ein Merkmal eines sich in Auflösung, zumindest aber im Niedergang befindlichen Staates sein können. Denn wenn noch staatliche Autoritäten bestehen, dann können diese sehr wohl gegen Gegner der bestehenden Ordnung, seien es Kriminelle oder Widerständler eingesetzt werden, sofern besagte Gegner sich diesem Ansinnen nicht erfolgreich zur Wehr setzen können. Dies ist insofern ein Unterschied zu einem funktionierenden Staat, dass ein solcher idealerweise in der Lage ist, jedem Gegner seiner Ordnung und der öffentlichen Sicherheit erfolgreich die Stirn zu bieten und sofern der funktionierende Staat länger als ein paar Jahre fortbestehen möchte, dies auch zu tun.

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