Gesichtet

Unsere Sensibilität für Einzelschicksale (III): Triumph des Subjektivismus

Inwieweit die Subjektivität bestimmend ist für Einzelschicksale sieht man daran, dass besonders gute Menschen niemals überindividuelle Wirkungszusammenhänge, sondern immer nur Einzelschicksale sehen vor dem Hintergrund der Güte der Welt sowie dem ihrer eigenen Güte.

Nicht die Großherzigkeit, die Ökonomik sorgt für Spenderorgane

Was damit gemeint ist, ist anhand eines Beispiels schnell erklärt: Die Spanier sind einsame Spitze im Organspenden. Die stolze Weltmeisterschaft der Spanier wird ihnen von ihren Medien und ihrer Politik mit ihrer Großherzigkeit erklärt. Der materiale Grund dafür ist aber in der Entstehung von Spendern im Straßenverkehr zu suchen.

Jeder frische und halbwegs gesunde Unfalltote hat das Zeug zum Organspender. Bekanntlich sind in Spanien Verkehrsunfälle ein landes- sowie kulturspezifisches Übel. Es wäre besser, es gäbe sie nicht, und mit ihnen auch keine Unfalltoten (Einzelschicksale) mehr. Gäbe es aber keine Unfalltoten mehr, die Spanier nähmen sich nicht mehr so großherzig aus im Organspenden.

Statt einem Gesamtbild gibt es lauter Individuen

Dass vor allem besonders gute Menschen den Wirkungszusammenhang nicht begreifen, d.h. wirkliche Wirkungen nicht auf ihre wahre Ursache zurückführen, überhaupt das reiche statistische Register von Einzelschicksalen nicht als Gesamtbild, sondern lediglich als dessen Auflösungsprodukt, die einzelnen Punkte, erfassen und, infolgedessen, nicht in der Lage sind, zu einer allumfassenden Symptomatik zu gelangen, liegt an ihrem unbändigen Drang zu individualisieren und zu personalisieren.

Werden die Einzelnen Katharina, Lars und Thorsten namentlich genannt, so kommt ihre Nennung einer Zugemüteführung gleich: Katharina, Lars und Thorsten erscheinen „uns“, emotional scharf umrissen, plötzlich bedeutungsvoll. Das Gesamtbild hingegen verschwimmt, um schließlich ganz zu verschwinden. Die das Gesamtbild auflösende Individualisierung und Personalisierung scheint ethisch geboten zu sein: „Wir“ müssen einfach den Opfern einen Namen geben, ein Gesicht, überhaupt ein Menschenleben, wie es „das unsrige“ ist, mit ihnen verbinden.

Im Idealfall sehen „wir“ im Opfer „unser eigenes“ Spiegelbild. Den Höhepunkt des Ganzen bildet die Auf-sich-Beziehung, sei es als Opfer, sei es als betreffender bzw. betroffener Angehöriger eines Opfers: „Es – d.h. das Schicksal – hätte auch mich bzw. die Meinen – und somit wieder mich – treffen können.“ Dieselbe Note des Einzelschicksals verhindert, zu sehen, und damit auch zu begreifen, was wirklich dahinter steckt.

Die individualistische Auflösung der Gesellschaft trübt den Blick

Werden tausend oder meinetwegen auch hunderttausend Einzelschicksale registriert, so gelangt man zu einem Register derselben, und zu einem ziemlich entmutigenden noch dazu. Daraufhin das Schicksal anzurufen, d.h. fatalistisch zu werden, ist eine psychologische Notwendigkeit genauso ratloser wie ohnmächtiger Einzelner. Überhaupt ist das Versinken in den Fatalismus und Subjektivismus das unvermeidliche Schicksal individualistisch aufgelöster Gesellschaften, deren menschliche Bestandteile vor lauter Einzelschicksalen deren objektiven Erzeugungsprozess nicht mehr zu überblicken vermögen.

Nach jedem Schicksalsschlag mit Opfern offenbart sich aufs Neue der Tatbestand der Auflösung: Einigkeit besteht unter den Menschen nur in den Emotionen und emotionalen Reaktionen, auf unterster Stufe also. Diese Übereinstimmung in den Empfindungen ist naturgemäß nur vorübergehend. Danach darf wieder getrost Normalität gespielt werden, den Leuten das Gefühl von Ruhe und Ordnung, von Sicherheit zu vermitteln.

Dabei gilt grundsätzlich: Je humanitäts- und gefühlsduselnder eine Gesellschaft, desto individualistisch aufgelöster ist sie, desto getrübter der Blick für die Realität, desto zwanghafter das Normalitätsbedürfnis des bzw. der Einzelmenschen. Daher kennt z.B. Merkel ihre vereinzelten Pappenheimer wie kein Zweiter, wenn sie offen verlautbart, die Bürger bräuchten das Gefühl der Sicherheit, d.h. das Gefühl, dass Recht und Ordnung immer noch funktionieren. Gibt man den Leuten das Gefühl der Sache, braucht man ihnen die Sache selbst nicht mehr zu geben.

Menschen, die täuschen, und Menschen, die getäuscht werden wollen

Das alles ist so, als wenn Sie, verehrter Leser oder Leserin, im Restaurant, anstatt ein leckeres Gericht, bloß das Völlegefühl im Magen sowie den leckeren Geschmack davon im Munde bekämen, wo sie doch für ein Gericht bezahlt hatten, welches Sie verspeisen, verzehren und verdauen wollten. So etwas mag zwar schon vorkommen, wie es auch Menschen geben mag, die so etwas wollen, es ist dann aber nichts anderes als die Übereinstimmung eines Täuschenwollens mit einem Getäuschtwerdenwollen.

Getäuscht werden wollen die Menschen aber nur, wenn ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt, als Täuschungen zu schlucken, weil sie so oder so nur Täuschungen vorgesetzt bekommen. Die Moral solcher Menschen liegt folglich total zersetzt am Boden, der Unmut hat sich ihrer bemächtigt, und das alles dank der berühmt-berüchtigten „Alternativlosigkeit“.

Moralisches Gebot der Denunziation bei „Männergewalt“ und …

Oftmals werden die Trübung des Blicks sowie die bewusste Täuschung als eine Gnade aufgefasst, so als ob Nichtwissen einem das Leben erleichterte. Für viele besonders gute und folgsame Menschen ist das auch so – bis sie selbst zum Opfer bzw. Opferangehörigen werden. Die Wahrheit wäre auch allzu schlimm: Zu wissen, dass hinter bzw. über so manchem Einzelschicksal eine prinzipiell einsehbare, und damit eigentlich kontrollierbare, menschliche Verursachung, und damit auch Bewirkung, steht, ist „moralisch“ nur dann zu vertreten, wenn es sich um schießende weiße Amis in den USA oder diejenige Gewalt handelt, welche westliche weiße Männer Frauen und Ausländern antun. Folglich darf und muss man sogar „Männergewalt“ sagen, Mann und Männlichkeit kriminalisieren.

Kampagnen gegen „rechte Gewalt“

Bei „rechter Gewalt“ besteht die Pflicht, sie grob pauschalisierend sowie so lautschreiend wie möglich zur Sprache zu bringen. Ein, wenn auch unredliches, so doch durchaus berechtigtes machiavellistisches Mittel, den Leuten die Schrulle des Rechtsseinwollens auszutreiben. Wenn es um den Islam, „Flüchtlinge“ oder „Ausländer“ geht, läuft es genau andersherum.

Hier besteht die Pflicht, „Einzeltaten“ nur unverbunden zu registrieren, sowie die Pflicht, zu differenzieren. Die echte oder vermeintliche Gewalt aber, die von Deutschen, besser noch: von rechten Deutschen, ausgeht, die darf und muss sogar „Gewalt“ genannt sowie in den Medien zu jeder Stunde breit getreten werden. Man muss nicht erst Verschwörungstheoretiker sein, um dahinter eine höchstabsichtliche besondere  Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit mit dazugehöriger, unverhältnismäßig großer Panikmache zu sehen.

Straftaten und „Migration“

Einzelschicksale, welche mit „Ausländern“, „Flüchtlingen“ und „Islam“ zu tun haben, werden unverbunden registriert, um einer unerwünschten Sensibilisierung entgegen zu wirken. Das Problem rund um die Ausländerkriminalität und ihre Statistik dreht sich in Westeuropa seit Jahrzehnten weniger darum, diese zu verhindern – das geht nämlich nicht bei dem derzeitigen Stand von Einwanderungspolitik und „öffentlicher Meinung“ –, als darum, dem „Volk“ seine Ruhe dadurch zu bewahren, dass ihm die wahren Zahlen vorenthalten oder, falls doch bekannt, auf ihre nichtssagende bloße Zahlenmäßigkeit reduziert werden.

Auch wird die Gleichung „die das Einzelschicksal erzeugende Einzeltat = einzelner Vorfall = Einzelfall“ aufgestellt, zwecks Auflösung offensichtlichster Zusammenhänge. Argdenkende Personen rekonstruieren dann ihrerseits diese Zusammenhänge bzw. schließen „von den Fakten“ auf diese zurück.

Ein Vorfall in Barcelona

Wenn z.B. vor einigen Monaten in spanischen Medien darüber berichtet wurde, dass eine junge Frau in Barcelona in der U-Bahn von „15 jungen Männern“ sexuell belästigt wurde, so schließt der Argdenkenkende: „Höchst unwahrscheinlich, dass das echte einheimische Spanier waren, das waren bestimmt Nordafrikaner; für Spanier ist so etwas eher unüblich.“ Tatsächlich waren die Übeltäter eine Gruppe räudiger – sie alle hatten wirklich die Krätze – Marokkaner.

Auch wenn nicht auszuschließen war, dass es doch Spanier oder anderweitige, weiße, westliche Europäer hätten sein können, so war die Wahrscheinlichkeit dafür unter diesen besonderen Umständen nicht besonders groß. Eines ist jedoch klar: Den Spaniern darf als Gesamtheit nicht einleuchten, in welchem wirklichen Verhältnis bestimmte Straftaten zur „Migration“ stehen, und den Deutschen ebenso wenig.

(Bild: Pixabay)

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