Anstoß

Verschwörungstheorien und AfD

Die Coronavirus-Pandemie umspannt den gesamten Weltball und macht weder vor politischen noch vor religiösen Grenzen Halt. Egal ob Mekka in Saudi-Arabien, Rom in Italien, ob die kapitalistischen USA oder kommunistische Staaten wie China oder Nordkorea – alle sind von dem Virus betroffen und alle haben mehr oder weniger einschneidende Maßnahmen zur Abwehr ergriffen. Alles letztlich nur ein Fehlalarm?

War man am Anfang zu zögerlich damit, Grenzen zu schließen und das öffentliche Leben herunterzufahren und hadert jetzt zu lange damit, zum Alltag zurückzukehren? Werden am Ende mehr Menschen durch Suizide und Krankheit aufgrund der bevorstehenden Weltwirtschaftskrise sterben als am Coronavirus?

Werden Regierungen und private NGOs die autoritären Maßnahmen zur Seuchenbewältigung und die Reaktionen der Bevölkerungen darauf als Anlass nehmen, um Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken? All dies sind völlig legitime Fragen, die jedenfalls in der westlichen Welt gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. Etwas wie die Corona-Pandemie war vor wenigen Monaten noch völlig unvorstellbar und entsprechend tief sind die Verwerfungen.

Verschwörungstheoretiker hatten noch nie so viel Rückenwind

Und genau diese völlig aus den Fugen geratene Welt ist der ideale Nährboden für den endgültigen Aufschwung der Verschwörungstheoretiker. Ihre Bedeutung und gesellschaftliche Resonanz dürfte ein Ausmaß erreicht haben, das bisher einmalig in der deutschen Geschichte ist. Längst sind auch die etablierten Politiker alarmiert und wollen auf der Innenministerkonferenz über das Thema beraten.

Doch sie selbst haben maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen: Durch aberwitzige Debattenbeiträge und laute Überlegungen in Richtung von Zwangsimpfungen und vor allem durch Verunglimpfung kritischer Stimmen zum Coronavirus aus Wissenschaft und Medizin. Diese als Spinner darzustellen, zu schikanieren und gesellschaftlich zu ächten, war wohl eine der entscheidenden Ursachen dafür, dass Verschwörungstheoretiker so einen Zulauf erhalten haben.

Denn wer die primitiv verfemten, hochwissenschaftlichen Stimmen gegen die Mainstreammeinung wahrgenommen hat, der hat zum einen ein gehöriges Stück Vertrauen in Presse und Regierung verloren und war zum anderen nur wenige Klicks von den daran geschickt andockenden Verschwörungstheoretikern entfernt.

Wenn der Lebensunterhalt mit einer Parallelwelt verdient wird

Apropos Verschwörungstheoretiker: Das Wort verwende ich hier völlig wertneutral. Weder ist es anstößig noch per se falsch, Verschwörungen zu vermuten und entsprechende Theorien anzustellen. Verschwörungen waren, sind und werden auch immer Teil der menschlichen Geschichte sein.

Die toxischen, meist kommerziellen Verschwörungstheoretiker, von denen hier die Rede ist, stellen jedoch gar keine Theorien zu einzelnen Vorkommnissen auf, sondern verkaufen gleich eine parallele Weltgeschichtsschreibung. Für sie ist so ziemlich alles, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist, Lug und Trug. Jedes relevante Ereignis muss daher denklogisch von ihnen uminterpretiert werden. Arbeitshypothese ist damit grundsätzlich, dass das, was in den großen Medien steht, mit Ausnahme der Lottozahlen falsch ist.

Der 11. September als Paradebeispiel und größter Erfolg der Szene

Gut erinnere ich mich noch an den Amoklauf in Erfurt im Jahr 2002 – selbst zu diesem Vorfall hatte prompt Gerhard Wisnewski, einer der notorischsten Verschwörungstheoretiker, eine Alternativversion parat. Der Nährboden ist dabei immer derselbe: Anschläge, Amokläufe, politische Ereignisse und selbst die Mondlandung haben gemeinsam, dass nicht alles öffentlich nachvollziehbar passiert, dass die Vorbereitung, Durchführung und nachfolgende Ermittlung ebenfalls nicht öffentlich einsehbar sind und dass deshalb das Streuen und Konstruieren alternativer Erzählungen ein Kinderspiel ist.

Paradebeispiel ist hier der 11. September, ein chaotisches Großereignis par excellence und bislang wohl größtes Erfolgserlebnis der transatlantischen Verschwörungstheoretiker-Szene: Die Zahl der verschiedenen, sich widersprechenden Theorien – oftmals von ein und derselben Person gleichzeitig vertreten – lässt sich kaum noch beziffern.

Ähnlich umfangreich sind mittlerweile die Widerlegungsversuche von Wissenschaftlern, Amateuren und anderen. Doch um die Wahrheit geht es längst nicht mehr: Bestimmte Theorien sind einfach nicht widerlegbar, weil sie von Fakten losgelöste Mutmaßungen sind und selbst die am leichtesten und frühesten widerlegten Theorien finden sich auch fast 20 Jahre später noch im Netz. Vor allem aber bestätigen Verschwörungstheorien vorgefertigte Meinungen über Protagonisten (z.B. die USA oder die Juden) und werden daher von manchem ohnehin dankbar und unkritisch angenommen. Sie sind ein Versuch, eine chaotische Welt verständlicher zu machen.

Welche „kritischen Bürger“ denken und prüfen eigentlich wirklich kritisch?

Was hat es nun zu bedeuten, wenn Videos von Ken Jebsen zu Corona von Millionen gesehen werden? Werden die Zuschauer sich die Mühe machen und neben dem Video auch die zahlreichen Faktenchecks zu selbigem durchlesen und sich eine eigene, differenzierte Meinung bilden oder werden zahlreiche von ihnen einfach glauben, was sie hören?

Wer prüft bei den frei und ohne Manuskript gehaltenen Videobotschaften von Oliver Janich eigentlich en passant getätigte Aussagen wie diejenige nach, dass die Pyramide im Innenhof des Louvre aus 666 Glasschreiben bestünde (was wenig überraschend falsch ist) und wer glaubt es einfach? Was kommt bei der bunten Mischung aus Rechten, Linken, Normalbürgern und Abgedrehten auf den Corona-Demonstrationen heraus?

Ein Drahtseilakt für die AfD

Am Ende ist das mit großer Sicherheit ein Problem für die deutsche Rechte und vor allem für die AfD. Diese erwartet in den nächsten Wochen und Monaten ein Drahtseilakt. Auf der einen Seite kann sich die Partei nicht vollständig von verschwörungstheoretisch affinen Bürgern distanzieren, denn zahlreiche Wähler und Mitglieder sind zurecht argwöhnisch gegenüber der Regierung und damit automatisch auch besonders empfänglich für weitergesponnene (Verschwörungs-)Theorien.

Gut ist, dass die Parteiführung mittlerweile einen wesentlich klareren Kurs in Corona-Fragen fährt, der vom Großteil der Partei wohl auch so mitgetragen wird. Ein klarer Kurs mit sinnvollen, pragmatischen Forderungen ist einladender und einbindender als ein in alle Richtungen offenes Durcheinander. Gleichzeitig kommt auf die Parteiführung aber genauso wie in Richtung von tatsächlichem Rechtsextremismus künftig die Aufgabe zu, einen nicht nur strategisch, sondern auch inhaltlich richtigen Sicherheitsabstand einzuhalten.

Und zwar zu Theorien von dem Kaliber, dass der Coronavirus überhaupt nicht existiere und/oder nur ein Cover-Up sei, damit Donald Trump Kinder aus unter dem Central Park gelegenen, gelegentlich auf Google Maps sichtbaren Tunneln aus der Hand einer weltweiten satanischen Sekte befreien könne.

Wir halten uns von nicht belegbaren Theorien aller Art fern und konzentrieren uns als politische Partei auf realpolitische Forderungen und Positionen, wäre die Klarstellung, die ich mir in den nächsten Wochen vom Bundesvorstand wünschen würde. Nur wenn exakt diese Position ruhig und besonnen, aber konsequent durchgezogen wird, kann verhindert werden, dass Protagonisten an manchen Rändern der Partei ins Abseitige ausfransen und sich danach empört zum Opfer stilisieren oder gar die AfD selbst in ihre Verschwörungstheorien miteinbeziehen, wenn ihrem Treiben von der Partei ein Riegel vorgeschoben wird.

(Bild: Franz Ferdinand Photography, flickr, CC BY-NC 2.0)

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