Menschen streiten sich ständig. Über die unterschiedlichsten Dinge. Dabei wird die Vokabel „Streit“ zumeist als etwas Negatives gebraucht. Was jedoch nicht unbedingte Folge sein muss. Vor allem das demokratische Zeitalter hat es verstanden, den Streit als etwas durchaus Positives zu verstehen.
War bis dato das Wort des Monarchen Gesetz, was – überspitzt formuliert – ohne Widerworte zu verinnerlichen war, wird nun über alles diskutiert, disputiert, debattiert und gestritten.
Zanken oder Debattieren?
Nicht umsonst wird das Streitgespräch – ein Streit über einen Sachverhalt, der jedoch in zivilisierter Art und Weise ausgetragen wird, im Gespräch – als etwas zutiefst demokratisches wahrgenommen. Das Wort Streit kommt von dem mittelhochdeutschen Wort „strit“ und bedeutet so viel, wie „Auseinandersetzung“. Googelt man „Streit“, so findet man dort die Erklärung: „heftiges Sichauseinandersetzen, Zanken [mit einem persönlichen Gegner] in oft erregten Erörterungen, hitzigen Wortwechseln, oft auch in Handgreiflichkeiten.“ Ein Streitgespräch wird im Duden hingegen wie folgt beschrieben: „längeres, kontrovers geführtes Gespräch; Diskussion um ein strittiges Thema.“
Ist ein persönlicher Streit vor allem durch erhitzte Gemüter und potentielle Gewaltbereitschaft geprägt, so ist das Streitgespräch als stil- und niveauvoll zu bezeichnen. Die Debatte beherrscht das öffentliche Leben. Im Parlament, im Fernsehen, auf der Straße, im Wohnzimmer zuhause; kurz: überall wird und soll heute debattiert werden. Man zieht nicht mehr den Säbel und fordert zum Duell, sondern setzt sich zusammen, um die Meinungsverschiedenheit aus der Welt zu schaffen, sich zumindest damit zu arrangieren. Nochmal so ein Wort: Meinungsverschiedenheit. Früher war das Gegenüber oder man selbst im Unrecht – heute ist man unterschiedlicher Meinung.
Meinungen weichen Recht und Unrecht auf
Meinung; bloß nicht in absoluten Begriffen reden. Ausdrücke, wie Recht und Unrecht sind so schrecklich endgültig. Die Meinung hingegen ist unbestimmt, wage, subjektiv. Überhaupt, Meinung ist ein oft gebrauchtes Wort in diesen Zeiten. Meinungsaustausch, Meinungsbild, Meinungsumfragen, Meinungsforschungsinstitut.
Überall scheint es nur noch um Meinungen zu gehen, unabhängig davon, ob diese nun richtig oder falsch, gut oder schlecht sind; sie müssen nur den Mehrheiten entsprechen! Überhaupt scheut man nichts so sehr wie endgültige Aussagen in Bezug auf Wahrheit. Nicht einmal dem politischen Gegner wird vorgeworfen, er habe Unrecht. Man wird lieber moralisch und bezichtigt ihn der Lüge – oder beleidigt und diskreditiert ihn schlicht.
Streit braucht Regeln
Aber ganz davon abgesehen, ob auf dieser Grundlage überhaupt noch von Streit und Streitgesprächen im strengen Sinne geredet werden kann – schließlich ist auch das Ergebnis dessen unbestimmt – glaube ich generell nicht, dass derzeit im eigentlichen Sinne demokratisch gestritten wird. Wer die vergangene Generaldebatte im Bundestag verfolgte, hat ein eindrucksvolles und bezeichnendes Beispiel vor Augen, dass Streitgespräche nicht mehr stattfinden in der deutschen Politik.
Wenn sich über etwas konstruktiv gestritten werden soll, so muss zumindest unter allen beteiligten Parteien ein gewisser Konsens bestehen. Nicht in dem Maße, in dem alle Ansichten zu den gleichen werden, wie es viele Jahre in der deutschen Politik war und damit die Debattenkultur völlig zum Erliegen kam, durchbrochen von immer mal wieder aufleuchtenden Phantomlichtern. Aber dennoch in dem Maße, aber ein grundsätzliches Verständnis muss möglich sein. C.S. Lewis beschrieb diesen grundsätzlichen Konsens einmal mit den folgenden Worten: „Streiten heißt doch, dem anderen zeigen wollen, daß er im Unrecht ist. Das aber wäre gar nicht möglich, wenn es zwischen den Parteien keine Übereinstimmung darüber gäbe, was Recht und Unrecht ist, genauso, wie man einem Fußballspieler nicht vorwerfen kann, er habe ein Foul begangen, wenn es keine Fußballregeln gibt.“
Homogenität vs. Multikulti
Derzeit prallen in deutschen Parlamenten zwei grundverschiedene Fronten aufeinander, die nicht einmal mehr die gleiche Sprache zu sprechen scheinen. Grundsätzliche Wahrheiten sind konträr besetzt. Und ein Verständnis für diese Gegenübersetzung fehlt auf jeder Seite. Es steht kulturelle Homogenität gegen Multikulturalität. Ehe und Familie als Norm und Keimzelle der Gesellschaft gegen egoistische Selbstverwirklichung als höchstes Ziel.
Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft gegen radikalen Individualismus. Ja sogar in Teilen Religiosität und Transzendentalismus gegen Konsumglaube und Existentialismus. Ein Existentialist wird jedoch nie die Beschwörung eines christlichen Abendlandes verstehen können. Ein Individualist steht einer Verantwortung gegenüber dem Volk und der Zukunft ratlos gegenüber.
Der Streit muss demnach weichen. Weichen einem Kampf um Deutungshoheiten. Es geht dieser Tage in der Politik letztlich nicht darum, wer Recht hat, lediglich wer recht behält, also lauter brüllt. In einem Kampf gelten keine Regeln. Einziges und oberstes Ziel ist der Sieg, egal mit welchen Mitteln. Vor diesem Kontext ist es dann vielleicht auch verständlicher, warum der Ton in der Politik so rau und hasserfüllt geworden ist. Der politische Gegner hat nicht etwa verlernt zu debattieren – er will es schlicht nicht. Mit dem Feind wird nicht verhandelt. Es wird nur eine bedingungslose Kapitulation akzeptiert.
Dekadenz und Demokratie
Das heißt, der immer wiederkehrende Ruf nach einer Rückkehr zu einer Debattenkultur ist aus Unverständnis geboren. Bleiben die grundlegenden Ansichten darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält, derart unterschiedlich, wird eine Debattenkultur nicht möglich sein. Erst mit der Niederlage einer Seite wird der Ton wieder ruhiger. Dabei heißt Niederlage nicht zwingend, eine der beiden Seiten verschwindet aus der Politik. Es genügt schon, wenn eine Seite ihren Grundsätzen zugunsten des anderen untreu wird, sich anpasst. Denn ein einfaches Ignorieren des Gegners ist nicht mehr möglich, dazu sind beide Seiten schon zu groß.
Eine letzte Frage, die bleibt: Warum ist das so? Liegt es an den natürlichen Zyklen, denen die Geschichte unterworfen ist? Der Aufstieg einer Idee und anschließender Untergang, eingeläutet durch eine neue aufsteigende Idee? Ich hoffe nicht. Denn dies würde bedeuten, es gäbe in letzter Gewissheit keine gleichbleibende Wahrheit. Alles, dem Wandel unterworfen, wäre ein Relatives. Heute hier, morgen dort!
Bewertungen wären ebenfalls obsolet geworden. Eine andere Möglichkeit: Liegt es womöglich an der vielgelobten Demokratie selbst? Dafür sprechen würde zumindest die Tatsache, dass diese die Dekadenz des Menschen in einem außergewöhnlichen Maße fördert, weil sie ihn selbst dazu ermutigt, einen falschen Weg einzuschlagen. Einen falschen, weil selbstzerstörerischen.