Gesichtet

Was ist ein Unhold?

Eine der größten, wenn auch am meisten verkannten Leistungen Othmar Spanns ist, die realistische Betrachtung von Gesellschaft und Geschichte durch Begriffe wie „Unhold“, „unholdisch“ und „Unholdentum“ bereichert zu haben.

Die Unholde und ihr Werk sind eine genauso historische wie soziologische Tatsache. Eine eigene Problematik kommt dem Begriff „Unhold“ zweifellos zu: es ist leicht, ihn für einen Kampfbegriff zu halten. Das ist Spanns Unhold allerdings nicht. Den Unholden nur im feindlichen Lager zu erblicken, sich selbst gegenüber den Einflüssen und Verführungen des Unholdentums aber für immun zu halten, ist der größte Fehler, den man begehen kann.

Böser Geist und Gegenspieler

Unhold ist zunächst einmal ein altdeutsches Wort für „böser Geist“, ganz ähnlich dem des Bösewichts als Gegenspieler des Guten. Spann präzisiert den Begriff des Unholds dadurch, dass er ihn dem des „Dämonen“, dem des „dunklen Untermenschentums“  und, vor allem, dem des „Genie-Affen und Verführers“ gleichstellt. Auf allgemeinster Ebene fasst Spann zusammen: „Jeder, der sein Können missbraucht, macht sich zum Genie-Affen und Unholden, sei es auf höherer, sei es auf niedriger Ebene.“

An dieser Bestimmung erkennt man die entscheidende Charakteristik des Unholden: Der Unhold ist ein Talent, eine Begabung, ein Könner also, dessen Aktivität sich bewusst von der Vollkommenheit, vom Heil sowie vom Guten und dessen Wiederherstellung abwendet. Der Unhold tut objektiv Böses, indem er auf das Gute verzichtet, sei es, weil er sich absichtlich von ihm abgewandt hat, sei es, weil er es nicht zu fassen vermag. Die Bestimmung des Unholden ist die, Gutes, Richtiges und Wahres zu zerstören.

Saboteur in der Geschichte

Was auf den ersten Blick wie eine persönliche Marotte Spanns anmutet, ist in Wirklichkeit ein aus reifer Lebenserfahrung geschöpfter empirischer Befund. Den Unholden gibt es wirklich. Spann lag viel an seiner Darstellung des geschichtlich wirksamen Unholdentums. Er hat ihm in seiner Geschichtsphilosophie eine eigene Dialektik – die „Dialektik des Unholdentums“ – gewidmet: In der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt offenbart sich der Gegensatz von gut und böse.

Über den Unholden als einen Agenten des Verfalls muss deshalb auch geschichtsphilosophisch abgehandelt werden. Niemand verstünde Geschichte ganz, wenn er nicht wenigstens unbewusst eine Ahnung hätte von ihren Grundkategorien Vollkommenheit und Verfall sowie den dazugehörigen Gegenströmungen Verfall und Gegenverfall (Wiederherstellung).

Die geschichtliche Rolle des Unholden ist dabei eine zweifache: seine eigentliche Rolle als Agent des Verfalls, bedingt durch seinen ursprünglichen Abfall, sowie sein Entgegentreten – gegenüber dem wiederherstellenden Gegenverfall – als Vereitler bzw. Zunichtemacher. Der Unhold ist also nicht nur ursprünglich der Zerstörer, sondern, nachträglich, auch ein Saboteur in der Geschichte.

Masse und Unhold bedingen sich gegenseitig

Ist das Vernichtungswerk einmal in Gang gebracht, ist der Unhold grundsätzlich auf Vereitelung der Wiederherstellung des Guten aus. Das gelingt ihm dadurch, dass er sich für sein Gegenteil ausgibt, den Schöpfergeist und begnadeten Führer. Da der Unhold zweifellos ein Talent ist, wenn auch ein verkehrtes, gelingt es ihm, den Schöpfer und Führer mittels Verführung und Genialität nachzuäffen. Gegenüber dem Schöpfergeist sind die Unholde auch noch im Vorteil: Abgesehen davon, dass es immer mehr Unholde als echte Schöpfergeister geben wird, steht der Unhold innerlich der Masse nah.

Er braucht sich gar nicht erst verständlich zu machen, sondern er ist der Masse bereits von vornherein verständlich. Masse und Unhold verstehen sich gegenseitig und ergänzen sich. Da die Masse keinen Sinn für wahre Genialität, für wahre Einsicht und richtiges Führertum hat, ziehen bei ihr die Vorspiegelungen dieser Eigenschaften, nicht aber die guten Eigenschaften selbst. Diese Verbindung von Unholdentum und Masse liegt genauso in der Natur der Sache – beides sind Entartungen und Verfallserscheinungen –, wie zu Platons Zeiten die Verbindung von verdorbenem Demos und Sophist.

Spann beschränkt sich jedoch nicht auf eine Aktualisierung des platonischen Begriffs des Sophisten, er nimmt auch gleich den Demagogen – als „wurmstichigen Führer“ – mit hinein. Was aus dieser Darstellung keinesfalls hinausrelativiert werden darf, ist die abgrundtiefe Bosheit und Verderbtheit des Unholden. Es braucht nicht gleich auf die höchsten Vertreter des Unholdentums, einem Hitler zum Beispiel, hingewiesen zu werden, um zu erkennen, dass die Unholde böse sind.

Ihr Werk ist Zerstörung, Vereitlung des Guten und, somit, Verderbnis, im Großen wie im Kleinen. Dennoch geht jedes unholdische Zerstörungswerk weit über das Vermögen eines normalen Menschentums, sei es das der „trägen Masse“ oder auch das des „geistig toten Philisters“, hinaus. Das Unholdentum bezeichnet eine negative, destruktive Art von Geistigkeit, einen Un-Geist, für den die Masse immer besonders empfänglich sein wird.

Wir stimmen dem Unhold zu und folgen ihm

Wer heutzutage von Unholden spricht, kompromittiert sich leicht, und das aus einem einfachen Grunde: Unsere gesamte gegenwärtige Gesellschaftsordnung ist zu Gänze das Werk des Unholdentums. Aber auch anscheinend gegenteilige Bestrebungen sind alles andere als frei vom Unholdentum. Unholde finden sich in allen Parteien und auch außerhalb von ihnen.

Das Innere des heutigen Menschen ist zu sehr verworren und durcheinander gebracht, als dass es den Unhold erkennen könnte. Das gilt selbst dann, wenn der Unhold uns leibhaftig vor der eigenen Nase stünde. Überall gibt es Beifall für den Unhold. Überall wird ihm gefolgt, der Steigbügel gehalten und ihm sogar ein Forum verschafft, damit er sich auch gehörig breit machen, sich so richtig austoben kann.

Es ist leicht, dem Unholdentum aufzuliegen

Niemand ist wirklich gegen den Unhold gefeit. Der Gedanke an diese Welt des Unholden, gegen die man offensichtlich nichts machen kann, lädt auch nicht gerade zu ihrer Anerkennung ein. Wenn ich nämlich anerkenne, dass ich gegen die Unholde überhaupt nichts auszurichten vermag und sie immer siegreich gegen mich und meine Sache sein werden, dann bleiben mir von halbwegs vernünftigen Alternativen nur zwei: mich in meiner Verzweiflung resigniert in mein Schicksal ergeben, oder aber gegen alle Erwartung das Unverhoffte hoffen und – beten.

Ein Drittes wäre die Zuflucht zu donquijotischem Wahnsinn, also alles andere als vernünftig. Alle drei sind aber keine gangbaren Alternativen für die Mehrheit der Menschen, und hier setzt bereits erfolgreich das Unholdentum an mit seinen Versprechungen, Ratschlägen und Einflößungen. Wer möchte schon hoffen und beten? Und Menschen die an der Realität verzweifeln, sind schon immer das Material für Unholde und falsche Propheten gewesen.

Falsche Propheten und ihre Jünger

Der Unhold ist auch wirklich ein falscher Prophet, aber nicht in dem Sinn, dass er die Zukunft nicht voraussehen könnte oder sich in seinen Voraussagen irrte. Der Unhold in seiner Eigenschaft als Prophet setzt nur auf Pferde, von denen er weiß, dass sie gewinnen werden. Bei seinen Voraussagen möchte er nichts riskieren. Er braucht den Erfolg, um auch weiterhin verführen zu können und um seine Anhänger bei Laune zu halten.

Darum halten es die falschen Propheten von heute nicht mehr mit gewagten Voraussagen, sondern beschränken sich auf Aussagen. Und diese möglichst sachlich und tatsachenorientiert. Der falsche Prophet sagt, spricht etwas aus, was natürlich längst in der Luft lag. Zumeist beschränkt er sich darauf, den Leuten ihre eigene Gegenwart auf bestimmte Weise zu Gemüte zu führen. Da er dabei meistens ins Schwarze trifft, bleibt auch der Erfolg nicht aus. So kommt der Unhold schnell in den Ruf, ein kenntnisreicher und verständiger Mann – Frauen sind in der Kategorie „Unhold“ seltsamerweise untervertreten – zu sein, dem man getrost Glauben schenken darf.

Bild: Pixabay

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