Gesichtet

Welt der Herdenmenschen

Innerhalb animalistischer Anschauungen vom Menschen unterscheidet man in Anschluss an Nietzsche die einsam umherschweifende Bestie vom Herdentier.

Der Animalismus ist dabei genau so ein zivilisatorisches Spätprodukt wie das Faktum eines bis zur Herdentierheit überdomestizierten Menschen. Der Animalismus, d.h. die Ansicht, dass der Mensch nur ein weiteres Tier innerhalb der allgemeinen Entwicklung der Arten sei, ist nicht von sich aus einleuchtend. Er muss erst einleuchtend gemacht werden.

Auch ist man nur empfänglich für animalistische Anschauungen, wenn die sozialen Umweltbedingungen entsprechend geartet sind. Der Mensch ist nämlich von Hause (!) aus kein Tier und erst recht kein Herdentier. Keinesfalls liegt es also in der Natur des Menschen begründet, sondern ist erst ein Ergebnis sozialer Überzüchtung.

Sittlichkeit der Bestie vs. Nullität des Herdenmenschen

Die umherschweifende Bestie ist ebenfalls nicht ursprünglich und natürlich. Im Unterschied zum Herdenmenschen allerdings ist sie ein Ergebnis strengster Selbstzucht entgegen den gleichmachenden Tendenzen einer zivilisationsbedingten und somit äußerlichen Übersozialisierung. Diese Selbstzucht bis zur einsam umherschweifenden Bestie vollzieht sich in bewusster Abgrenzung von der Herde sowie in radikalster Opposition zu deren Hohlheit, Äußerlichkeit und Flachheit.

Die Opposition ist radikalst, weil die umherschweifende Bestie überhaupt gar keinen Bezug hat zu menschlichen Dingen, die sich immer nach dem Schema Hohlheit-Fülle, Äußerlichkeit -Innerlichkeit, Flachheit-Tiefe usw. scheiden lassen. Trotzdem ist sie auf eine gewisse Weise sittlich zu nennen. Selbstzucht ist in den Spätzeiten der Kultur nämlich alles andere als selbstverständlich. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an Spenglers Aufrufe zu Selbstzucht und Disziplin.

Das Dasein der Herdenmenschen jedoch ist zu einer so selbstverständlichen Gegebenheit geworden, dass man sich nichts anderes mehr vorzustellen vermag. Zu einem rein faktischen Herdendasein braucht es keine Zucht, noch weniger eine Selbstzucht, sondern einfach nur die aus der eigenen sittlichen Nullität sich ergebende Bereitschaft, sich zum Fall jeweiliger Umstände und Vorgänge zu machen.

Der Übermensch als Gegengewicht zum glotzenden Fleischberg

Eine wirklich gelungene einsam umherschweifende Bestie braucht keine Moral. Sie selbst ist sozusagen fleischgewordene Sittlichkeit. Der zum Herdentier gewordene Mensch hingegen ist bloß ein blöd glotzendes Stück Fleisch, welches nur klug redet, weil es durch die Dressur der Zivilisation gegangen ist. Diesem Stück Fleisch gegenüber nimmt sich die einsam umherschweifende Bestie aus wie ein einzigartiges Prachtexemplar: Es ist ein unwahrscheinlicher Glücksfall, der so wohl gar nicht eintritt, dass ein einzelner Mensch den Millionen Tonnen schweren stierenden herdenmenschlichen Fleischberg aufwiegt.

Kein Wunder, dass dieses monströses Missverhältnis zwischen einzigartigem Prachtexemplar und allergewöhnlichster empirischer Menschheit Nietzsche zu dem Gedanken des Übermenschen verleitete.

Erhabenheit oder gesolltes Leben?

Einem Übermenschen braucht keiner zu sagen, dass sein Leben einen Sinn hat. Nicht einmal er selbst sagt sich das, ohne dass darum sein Leben ein bloßes Faktum oder eine Selbstverständlichkeit wäre. Auch ist der Übermensch über seine Außergewöhnlichkeit und Einzigartigkeit nicht unterrichtet. Gerade das aber macht ihn so außergewöhnlich und einzigartig, im höchsten Sinne erhaben.

Statt eines kaputten Bewusstseins für sich, andere, die Dinge des Lebens, die Welt usw., hat der Herdenmensch einen gesunden Instinkt zum Selbstbewusstsein. Überhaupt Bewusstseinsfragen wie auch ein elendes Gezerre darum, kann es für ihn nicht geben. Bewusstseinsfragen und Reflexivität zeichnen den Herdenmenschen aus. Ihm muss dauernd gesagt werden, wie außergewöhnlich und einzigartig er ist, und wenn er es sich selbst sagen müsste!

Sein Selbstbewusstsein hängt davon ab, darüber unterrichtet zu sein. Auch ist ihm das so lange gesagt worden, bis er selbst glaubte, dass er zu leben verdient hat. Daraus nun die Überzeugung des Herdenmenschen, dass sein Leben ein gesolltes Leben ist. Wer aber sagt dem Herdenmenschen „dein Leben hat einen Sinn, du und dein Leben, ihr seid Selbstwerte; jedes einzelne Leben ist es wert, gelebt zu werden“, wenn nicht er selbst?

Selbstzugeschriebenes Recht auf Leben

Kein Gott hat dem Herdenmenschen offenbart, dass sein Leben etwas wert wäre, das nämlich hat der Herdenmensch sich allein selbst gesagt: „Du verdienst es zu leben, du verdienst es zu leben, du verdienst es zu leben, ich verdiene es zu leben, wir alle verdienen es zu leben“ – was aus dieser Ansichtsverkündigung der Herdenmenschen klar wird, ist die unter ihnen herrschende heillose Verwirrung zwischen „ich“, „du“ und „wir“, die auf die Grundverwirrung zwischen „ich“ und „wir“ zurückgeht.

Nur an der faktischen (innerweltlichen) Existenz irre gewordene Existenzen können sich so im Unklaren sein über die existentiellen Grundunterschiede. Dabei ist dieses ganze „Ich“, „Du“, „Wir“-Getue genau so eine Lüge wie die Fundamentalversicherung sich selbst gegenüber, dass man sein Leben verdient hat, wo es einfach nur zufällig war. Wer entscheidet tatsächlich, d.h. rein innerweltlich, darüber, ob das Leben nun verdient ist oder nicht? Die Herdenmenschen!

Trotzdem behaupten sie, dass es hier nichts zu entscheiden gäbe, dass das Recht auf Leben ein aller menschlichen Entscheidung jenseitiges ist. Hinter dieser Maskerade und fehlenden Aufrichtigkeit lugt aber schamesrot die nackige Tatsache hervor, dass es eben doch die Herdenmenschen waren, die diese Entscheidung für sich selbst getroffen haben. Ließe man Fünftklässler unter voller Abwesenheit des Lehrers sich selbst benoten, bald wären alle Einserschüler. Genau so gehen aber die Herdenmenschen zu Werke.

Ewiges Kindsein

So wie Kinder, die man allein unter sich gelassen hat, über kurz oder lang Unsinn anstellen, so stellen auch die Herdenmenschen in ihrer innerweltlichen Alleinheit Unsinn an. Herdenmenschentum und Unsinn sind nicht voneinander zu trennen, d.h. was die Herde hervorbringt, und sei es mittels des einzelnen Herdenmenschen, trägt notwendig den Stempel des Unsinns.

Was ihr zugrunde liegt und was sie erhält, ist ebenfalls Unsinn. Im Unsinn und durch den Unsinn verhindert man die Reife und sichert sich so das ewige Kindsein. „Wer lebt wie die Kinder – also nicht um sein Brot kämpft und nicht glaubt, dass seinen Handlungen eine endgültige Bedeutung zukomme – bleibt kindlich.“ (Nietzsche) Infantilität, Zurückgebliebensein, fehlende Reife aber sind untrügliche Anzeichen von Übersozialisierung.

Der Herdenmensch hat Moral besonders nötig

Es ist zwar verständlich, aber dennoch unverzeihlich, sich etwas vorzulügen, umso mehr, wenn es das eigene Dasein betrifft. Wer in diesem Sinne der Wirklichkeit nicht gerecht werden will oder kann, der kann nicht erwarten, dass man ihm als Teil dieser von ihm missachteten Wirklichkeit in seinem Sinne Gerechtigkeit widerfahren lasse. Auch reicht es dem Herdenmenschen nicht, sich selbst und anderen etwas vorzulügen: er muss immer da Moral und Gerechtigkeit vorschützen, wo er der Wirklichkeit, anstatt ihr gerecht zu werden, zugegenhandelt.

Der Herdenmensch stellt folglich das Verhältnis von Moral zu Unmoral auf den Kopf. Die Wirklichkeit ist viel zu unwirtlich für ihn, als dass er sie aushielte. Aus diesem Grund hat der Herdenmensch auch Moral bitter nötig, darum spricht er auch mit besonderer Vorliebe von Gerechtigkeit: soziale Gerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, überhaupt Schwingen der Gerechtigkeitskeule gegen den Zufall. Hier findet sich die ureigenste Berechtigung für jeden machiavellistisch-nietzscheanischen Amoralismus, dem die Welt des Zufalls sein Zuhause ist.

Aber auch ohne Gerechtigkeitskeule ist die Moral des Herdenmenschen eine schwächliche, sentimentale, überhaupt humanitätsduselnde Moral des Mitleids und Selbstmitleids, die den politischen Menschen aller Zeiten widerwärtig ist. Entgegen Nietzsche ist (echtes) Mitleid jedoch keine politische Todsünde. Nur das bis zur Krankhaftigkeit gesteigerte Mitleid sowie dasjenige Mitleid, für das das eigene Selbstmitleid ausgegeben wird, sind eine Sünde wider den heiligen Geist.

Fehlende Aufrichtigkeit, Lüge und Unrecht der Herdenmenschen

Die animalistischen Anschauungen vom Menschen sind alle falsch. Nietzsches „einsam umherschweifende Bestie“ oder der „Übermensch“ sind Irrsinn, wenn auch ein verständlicher, wenn man sich vergegenwärtig, wie sehr sich ein übersozialisiertes, d.h. durch die Zivilisation künstlich unreif gehaltenes Herdenmenschentum, anschickt, für die eigentliche, die gute Menschheit zu gelten.

Alberne Menschen, die die Moral verkehren, und deren Dasein nachweislich absurd ist, monopolisieren in ihrem Menschheitswahn Menschlichkeit und Moral. Wenn Menschlichkeit nur schwächliches und krankhaftes, z.B. übersteigertes Mitleid und Selbstmitleid, sowie Unmoral Moral wäre, könnten die Herdenmenschen vielleicht recht haben.

Allein die Tatsache aber, dass sie um ihres vielgepriesenen Lebens und ihrer (vorgeblichen) Gewissensgüte wegen nicht aufrichtig sein können, sondern sich selbst und anderen etwas vorlügen müssen, zeigt, dass sie nicht im Recht sind. Auch die Ursachen dieser Moral, die in wirtschaftlichem und technisch-wissenschaftlichem Fortschritt, sprich, Zivilisation, aber eben nicht im Menschen selbst, noch weniger aber in Gott zu suchen sind, sprechen nicht für den Herdenmenschen.

Ihr Regime, ihr Rechtsstaat und ihre Demokratie

Um sich gegen so unschickliche Dinge wie Wirklichkeit, Tatsachen, Vernunft und geschichtliche Erfahrung abzuschließen und sich nicht dauernd der Wahrheit aussetzen zu müssen, haben die Herdenmenschen sich eine demokratische Verfassung gegeben, deren zivilisatorisch-zoologische Grundlagen wir nun zur Genüge kennen sollten. Unsere öffentlich-rechtlichen Verhältnisse, Parlamentarismus, „Zivilgesellschaft“, Rechtsstaat, öffentliche Meinung usw. setzen den unaufrichtigen Herdenmenschen voraus.

Wer von ihnen abweicht und beiseite tritt, hat immer gleich die ganze Herde gegen sich. Es ist also auch hier letztlich keine Frage des Rechts, der Gerechtigkeit oder der Moral, sondern eine reine, wenn auch numerische, Machtfrage, weil die Herdenmenschen ja in der Überzahl sind. Sie sind in überwältigender Mehrheit, darum ist die Demokratie auch ihr ureigenstes Regime. In ihr verkehrt der Herdenmensch souverän Recht und Unrecht, vor allem wenn er die Regierung stellt: Recht ist, wenn alles demokratisch abläuft, oder eine reine Machtfrage, jedenfalls keine genuin juridische Frage mehr. Oh, ihr Aufrichtigen und Wahrhaftigen, ihr Rechtsstaatlichen …!

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