Anstoß

Der Mensch als Haustier der Technik?

Die Philosophin Eva Schürmann bezog sich in einem ihrer Werke mit einem Zitat auf Martin Seel, der darauf hinweist, dass Medien keine „neutralen Vermittler“ sind, sondern eigene Wirklichkeiten schaffen können. Seel unterscheidet außerdem zwischen medialen und performativen Aspekten dieses Phänomens. Es ist wichtig zu betonen, dass auch die Medien – wie etwa Social Media – nicht „neutral“ sind.

Sie vermitteln nicht nur, sondern sind zwar für die schnelle Weitergabe und Verbreitung von Informationen äußerst bedeutsam und haben dem patriotischen Lager sehr geholfen. Der Aspekt ihres medialen Eigenlebens wird jedoch nahezu immer vergessen. Vor allem der Aspekt der Erschaffung eines digitalen, teils auch rollenbasierten Eigenlebens ist entscheidend, dessen Bedeutsamkeit, Wichtigkeit und Wertigkeit sich vor allem nach einem Kriterium richtet: nach der medialen Bekanntheit. Das Problem ist eindeutig: Ein Monokriterium der Bekanntheit ist nicht nur vom Algorithmus und möglichen Eingriffen der Betreiber dieser Medien – etwa durch Shadowbans – in gewisser Weise abhängig, sondern wird auch zu einem Modeereignis.

Moden ändern sich jedoch schnell.

Ich will damit in keiner Weise sagen, dass dies auch auf Influencer in unserem patriotischen Lager zutrifft, ganz im Gegenteil, es ist ein Zeichen von Mut sich öffentlich sichtbar zu machen und die eigene Höhle zu verlassen. Dieser Artikel soll viel mehr den Gefahrenhorizont aufzeigen, den Medien und das Phänomen der Medialität, insbesondere soziale Medialität mit sich bringen.

Die Höhle symbolisiert seit jeher Schutz vor dem „Draußen“ der brachialen und gefährlichen Realität. Die Höhle ist eine Art „Schutzzone“. Die Höhle symbolisiert das „Drinnen, Geborgenheit und Vertrauen, aber auch die Planung und das Reflektieren“. In der Höhle ist die Gefahr zunächst minimiert, wenn nicht sogar gebannt. Andererseits bedeutet ein Höhlenausgang genau das Gegenteil, nämlich „Sichtbarkeit, Gefahr und Risiko, Kampf, Durchführung und Anwendung des Geplanten“. Die Höhle und der Höhlenausgang stehen für das Verhältnis von Privatsphäre und privatem Kreis einerseits und Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsinteresse andererseits.

Die Höhle und deren Höhlenausgang sind ein Symbol, eine Metapher und die Verkörperung einer der Grundwesenheiten des Menschen. Der Mensch will und muss etwas erreichen, nämlich das, was er sich vorgenommen hat. Zunächst heißt dies Überleben. Damit er dies jedoch erreicht, muss er sich sichtbar machen – zumindest stückweit die Höhle verlassen. Wenn er sich wiederum zu stark sichtbar gemacht hat, um z.B. noch größere Dinge anzugehen und zu erledigen, braucht er wiederum einen Schutzraum, d.h. wieder eine Höhle, damit er nicht im grellen Licht der Öffentlichkeit ausbrennt. Das Nachdenken und das Besinnen geschehen meistenteils in der Ruhe und dem Schutz der Höhle.

In der heutigen Welt ist „Sichtbarkeit“ zum Ziel vieler Menschen geworden. Es sind die Klicks, Views und Likes, die unsere Welt und den Verstehenshorizont vieler Menschen bestimmen. Durch Medien wie Instagram und TikTok hat die Quantität vor der Qualität final und höchstwahrscheinlich endgültig gesiegt. Man mag der Qualitativste sein, aber wenn man sich der Sichtbarkeit entzieht, bleibt man für viele Menschen metaphorisch gesprochen ein Höhlenmensch.

Dabei war es gerade Platon, der nicht nur das Höhlengleichnis prägte, sondern auch, im Vorlauf zu Tolkien, das Narrativ/die Geschichte vom Ring des Gyges in einem seiner Hauptwerke, nämlich der Politeia, niederschrieb. Hier wird der Mensch jedoch nicht von allen sichtbar gemacht, sondern das genaue Gegenteil – er wird für alle unsichtbar, solange er den Ring ansteckt. Die Pointe der Geschichte ist, dass dieser dann, wie es im Original heißt, gottgleich (isotheos) sei. Die Folge, die zumindest Platon schildert, ist ein eindeutiger, fast brachialer Missbrauch der Macht dieses Vorteils der Unsichtbarkeit. Das Ziel und das „Gottgleiche“ ist also nicht die allumfassende Sichtbarkeit, sondern die allumfassende Unsichtbarkeit.

Die allumfassende Unsichtbarkeit, die Präsenz in Absenz, ist tatsächlich sowohl glaubens- als auch religionstechnisch vor allem im Christentum, aber auch in anderen Religionen vorhanden. Das platonische isotheos passt auch hier.

Sowohl die benannte ständige Präsenz in Absenz ist durch Videos, Reels und GIFs von den Repräsentierenden gegeben. Das Internet ist voll von Präsenz in Absenz und ist somit leider religionsanalog aufzufassen. Es geht hier um die Tatsache, dass genauso etwas ohne tatsächlichen Grund oder Kriterium medial präsentiert wird, indem die Emotionen der Menschen bedient werden. Die Influencer nehmen durch die Präsenz in Absenz eine transzendierende Position ein. Dadurch wird jedoch einiges gesteuert, mit anderen Worten: Möglicherweise werden (noch) nicht die Thesen selbst von solchen Influencern vollständig und final bearbeitet oder sogar beantwortet, will sagen, dass es durchaus noch andere diesbezügliche Akteure gibt, aber sie sind bereits diejenigen, die in Absenz die umfassenden Themen setzen. Dadurch, dass die von den Influencern bestimmten Thesen meistenteils nur emotionales Marketing bedienen, ist eine massive Abstumpfung und Verflachung die Folge.

Private Sachen (subjektive Beschreibungen und Meinungen) und Themen werden veröffentlicht – und wiederum werden öffentliche Themen (objektive Fakten) ins Private zurückgedrängt. Die blitzschnelle Veröffentlichkeitslust, gepaart mit der blitzschnellen Veröffentlichkeitsmöglichkeit, zerstört das oben dargestellte Verhältnis vollständig. Damit ist das Private nie vollständig privat und das Öffentliche nie vollständig öffentlich.

Doch gibt es nicht so etwas wie die objektive Wissenschaft, welche hier den eingeschlagenen Kurs korrigieren kann? Die Wissenschaft wurde laut Heidegger im Zuge der Neuzeit zum „Betrieb“. Meines Erachtens ist die Betriebsanalogie doppelt codiert bzw. bedeutet zweierlei. Zunächst – etwas, das Heidegger wörtlich sagt –: Der Orientierung und Halt gebende Gelehrte sowie die Bibliothek sind am Verschwinden, da sie nicht betriebskonform sind. Zugleich rückt der Profit ins Zentrum des Weltbildes so manch eines Verlegers und Wissenschaftlers – Stichwort: Drittmittelfinanzierung et cetera

Wissenschaft wird in gelenkte Bahnen gegossen oder, mit anderen Worten: Die Wissenschaft macht sich zum Komplizen des Marketings und des Algorithmus. Dies muss sich ändern. Die Verfahrensordnung und Geschäftsordnung bilden das Grundgerüst der neuen Wissenschaft und nicht mehr eine regulative Idee wie z. B. Wahrheit. Schließlich sei Wahrheit zu unbestimmt, metaphysisch klingend und methodisch nur schwer greifbar.

Es ist aber auch noch ein weiteres Phänomen zu beobachten, das Heidegger diesbezüglich ebenfalls scharfsinnig erkennt, laut Heidegger wird erst in der Neuzeit der Mensch selbst zu einem Bild. Es geht letztlich um den Kampf um die Stellung des Menschen – oder, mit den Worten Heideggers: „In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht.“ Wenige Zeilen weiter heißt es: „Für diesen Kampf der Weltanschauungen und gemäß dem Sinne des Kampfes setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel.“

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass dieses Zitat aus den Holzwegen stammt, genauer gesagt aus dem Aufsatz „Die Zeit des Weltbildes“, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Es ist nämlich nicht mehr der Mensch allein, der sich für die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge einsetzt. Der Mensch erhielt durch weitere, leicht bedienbare Technik und die sogenannte Künstliche Intelligenz massive Hilfestellung, die ihn ständig und fortschreitend ersetzt – so sehr, dass die zunehmende Verästelung, also die massive Spezialisierung (das heißt: frühere Details werden nun zu Forschungsgebieten, wenn nicht sogar zu eigenen wissenschaftlichen Fächern erhoben), sowie die zunehmende Entkopplung von Nutzer und Programmierer und das Verschwinden des über den Disziplinen stehenden Gelehrten zur Folge haben, dass sich der durchschnittliche Mensch mit Hilfe der Technik selbstdomestiziert hat.

Der Mensch wurde, im Versuch, die Dinge zu züchtigen, selbst in gewisser Weise zum Haustier der Technik – und somit selbst gezüchtigt. Die Denk- und Schreibhöhle wurde nahezu vollständig ersetzt durch die Präsenz in Absenz der Technik, sodass sich der Mensch mit der Metapher wie die Motte zum Licht beschreiben lässt.

Schließlich bedeutet das für den Menschen, dass er sich in einem ständigen Reagieren befindet – im Nacheifern nach neuen Tools und Internettrends, das heißt: im fortwährenden Vollzug von etwas, das an ihm geschieht. Etwas wird ständig an ihm vollzogen, ohne dass der durchschnittliche Mensch bei der Erschaffung oder Planung dieser Dinge beteiligt gewesen wäre oder sie gebilligt hätte. Die Entscheidung wird nur noch an ihm vollstreckt.

Nicht nur, dass Bildschirmzeit z.B. bei Kindern massive Störungen hinterlassen kann, es ist generell und völlig real nicht nur ein massiver Verlust an Qualität, wie z.B. bei den inflationären Abiturnoten bis hin zu allen möglichen Universitätsabschlüssen, zu beobachten, sondern vielmehr scheint es sogar schon so weit zu sein, dass man in der Breite vergessen hat, was Qualität überhaupt noch bedeutet, das Marketing und die Maximierung an Bekanntheit geht bei manchem jungen Influencer einher mit dem Minimum an eigenem und privatem Denkvermögen und man daher nicht nur von einem Qualitätsverlust sprechen sollte, sondern sogar von einer „Qualitätsvergessenheit“ sprechen kann. Die immer stärker werdende Künstliche Intelligenz und das tägliche Nutzen von dieser verstärken das Phänomen massiv oder, um es mit Nietzsche zu sagen: „Die Wüste wächst…“

Entdecke mehr von Blaue Narzisse

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Datenschutzinfo