Grundmythen und Gründungsmythen sind sehr wichtig. Warum diese Mythen und ihre Verwandten wie die Metaphern und die Anekdoten für das Selbstverständnis eines in einem Staat lebenden Volkes so bedeutend sind – auch bei nicht religiös-mythischem Material – und warum das Unterlassen des Kreierens eines echten und gleichberechtigten Gründungsmythos nach Ansicht des Autors dieses Essays gerade bei der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten so problematisch war, lässt sich als Leitgedanke dieses Essays zusammenfassen.
Ein Gründungsmythos ist zunächst eines: eine Geschichte des Anfangs und des Neubeginns. Dabei wird gehäuft legitimatorisch auf alte Erzählungen zurückgegriffen. Es ist jedoch kein „Muss“, die Vergangenheit neu zu stilisieren. Vielmehr ist es ein Muss, eine Gründung zu erklären oder, noch stärker, zu verkörpern. Eine Gründung und ihr Mythos sind eine Erklärung der Begründung von neuen öffentlichen Dingen.
Dabei geht es in diesem Essay nicht nur darum, den Gründungsmythos als solchen zu beleuchten, sondern auch die Arbeit am Gründungsmythos – d.?h. die Rezitation, Interpretation, Auslegung und realisierte Anwendung desselben –, von welchen sich Grundregeln ableiten lassen. Alexander Gauland bezog sich in seiner Rede zum Hambacher Fest (2018) auf den berühmten Ernest Renan, welcher in seinem Pariser Vortrag „Was ist eine Nation?“ an der Sorbonne behauptete, das Dasein einer Nation sei ein „tägliches Plebiszit“.
Dieser Einschätzung von Renan würde ich weiterführend hinzufügen – abgesehen davon, dass die französische Deutung des Begriffs der Nation nicht auf das deutsche Volk übertragbar ist –, dass es möglicherweise ein tägliches, aber kein beliebiges Plebiszit bzw. keine beliebige Entscheidung ist. Vielmehr interpretieren, restaurieren und weben wir (mythologisch gesprochen) innerhalb einer gewissen gedanklichen Schranke weiter und bedienen uns eines kontextuellen Verstehenshorizonts. Genau dies bezeichne ich als politisches Axiom oder Vor-Urteil, welches sich bei so manchem auch mit dem Gründungsmythos eines Staates deckt. In Deutschland ist es die Idee des Rechtsstaats.
Die Färbung (im Sinne einer aristotelischen Akzidenz) des Gründungsmythos der Idee des Rechtsstaats (Substanz) der frühen Bundesrepublik war von christlich-katholischer Farbe bzw. Natur. Adenauer brauchte jedoch eine neue Partei. Die Legitimation der Zentrumsnachfolge wäre zu komplex gewesen, und die Neugründung einer Partei machte ihn auch direkt zum Gründungsvater seiner neuen Partei – nämlich der CDU. Man befand sich dennoch in legitimatorischer Erklärungsnot.
Die Thesen der Kritik an den Folgen der Neuzeit, welche mehr oder weniger direkt oder über Umwege zur Zeit des Nationalsozialismus führten, waren gehäuft vertreten. Die Aufklärung, welche stark deutsch geprägt war, soll durch das Erwecken der „industriellen Vernunft“ zum Nationalsozialismus geführt haben – so zumindest die These Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese These fand starken Anklang, vor allem in den 68er-Jahren. Diese gibt es auch im katholisch-konservativen Denken, nämlich dass die Neuzeit und ihre Kulmination im Nationalsozialismus ein gottloser Abklatsch oder, wie es in der Fachterminologie heißt, ein „Säkularisat“ des Mittelalters – z.B. eines Thomas von Aquin – sei.
Die DDR wiederum betonte den „Antifaschismus“ als Gründungsmythos. So seien nach dem Zweiten Weltkrieg alle echten Antifaschisten in die DDR gereist, gegen eine angebliche kapitalistische Nachfolge des Nationalsozialismus. So hieß in DDR-Sprache die Mauer auch „antifaschistischer Schutzwall“. In Wirklichkeit ist jedoch vor allem Bertolt Brecht in die DDR gereist – möglicherweise aufgrund dieser besagten Stilisierungen der DDR.
Doch was genau ist ein Beispiel für einen weiteren Gründungsmythos? Ein kurzer Ausflug zu den antiken Griechen:
So stellt der griechische Dichter Pindar in seiner ersten nemeischen Ode das Zunicken des Zeus zur Persephone dar – als Zustimmung für die Gründung von apoikiai (Stadtkolonien) auf Sizilien. Das Gedicht fängt jedoch zuerst mit einem anderen Inhalt an: nämlich wurde die Flussgöttin Artemis von dem Flussgott Alpheios, welcher aus der Quelle der Arethusa entstand, verfolgt. Pindar arbeitet sich hier an einer Sage ab. So ist bei Pindar auch die Bezeichnung für Ortygia zu finden, welche wiederum „[…] den alten Stadtkern der Kolonie Syrakus bildete“ (Miller, Die griechische Kolonisation, 146).
So ist, zumindest nach der Überlieferung Pindars, zu verstehen, dass Alpheios seine Geliebte Artemis innerhalb des Wassers suchte. An der genannten Quelle Arethusa atmet nun dieser daimon – hier im griechischen Sinne als Gott gemeint – auf. Er taucht also und ringt nach Atem. Das Aufatmen (apneuma) ist hier wiederum allegorisch aufzufassen, als „Atemholen“ und „Ausatmen“ eines Schwimmers oder Athleten nach einer körperlichen Anstrengung. Der Schwimmer ist jedoch allegorisch gesehen hier der Fluss. „Der Fluss atmet nach der Unterquerung des Meeres als Schwimmer auf, das Zutagetreten der Quelle ist Ausstoßen des Atems; vermenschlichte Gestalt und Naturbereich sind paradox miteinander verknüpft“ (ebd.).
Dies erinnert an die klassische anthropomorphe Darstellung der Götter der Griechen, in welcher eine Projektion der menschlichen Verhaltensmuster auf die Götter – wie z.?B. das Aufatmen – geschah. Die Hauptaufgabe des Gründungsmythos ist aber „[…] dass in ihm der thessalische Fluss geographisch mit der Insel Ortygia vor Sizilien verbunden wird. Solche Sagen, die Kolonialstädte mit dem griechischen Mutterland in Beziehung setzten, verwendet Pindar besonders gern, um die Herkunftsorte der von ihm gepriesenen Sieger in enger Verbindung mit den Göttern und Heroen des Mutterlandes zu zeigen“ (Miller, Die griechische Kolonisation, 147). So haben wir es hier – genau wie auf der Insel Ortygia – mit einer Mythologisierung der Beziehung zwischen Mutterstadt und Tochterstadt zu tun. So beschreibt Pindar in seiner „9. Pythie“, dass die thessalische Nymphe Kyrene den gleichen Namen trägt wie die Kolonie in Libyen, sodass er eine sprachliche Verwandtschaft aufbaut, welcher nicht gerade selten eine inhaltliche folgt.
Der Mythos verknüpft Politik, Geschichte und Geographie zu einem gemeinsamen Feld. Mythenhermeneutik ist hier also durch und durch angesagt. Das heißt Interpretation, das heißt Diskussion – und letztendlich heißt das: Politik. Pindar will durch die Dichtung einen Zusammenhang von Mutterstaat und Kolonie herstellen, welche unter anderem auch in weiteren Gedichten als „Mutter“ und „Kind“ bezeichnet werden.
Wir haben in Deutschland genug Nationaldichter, welche in Form eines Gedichts die Wiedervereinigung zelebrieren könnten, genug Epen wie z.?B. das Nibelungenlied etc. Doch dies ist bewusst nicht gewollt. Jeglicher nur anklingende romantische Mythos wird als brandgefährlich verstanden. Schließlich könnte doch alles nationalistisch missbraucht werden – so der heutige Gedanke. Doch ganz mit Ernst Jünger gesprochen: „Zum Mythischen kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder.“ (Waldgang, S.?43)
Solange die beiden Staaten (DDR und BRD) nebeneinander koexistierten, griffen die beiden Gründungsmythen mehr oder weniger – bis auf einmal die Wiedervereinigung kam. Hier bricht ein schon lange vor sich hinsterbender Mythos der DDR endgültig zusammen. Es bricht jedoch nicht nur die Mauer am 9. November zusammen, sondern auch die klassische Antwort auf die Identitätsfrage. Die aktuelle Gesamtheit der Deutschen – und somit auch das Selbstverständnis – ist nicht mehr dieselbe. Die Identitätsfrage muss neu beantwortet werden.
Spoiler: Sie wird nicht beantwortet.
Man könnte zwar sagen: Doch, es ist wieder einmal der Rechtsstaat. Doch diese Antwort genügt nicht (mehr). Innerhalb eines dilatorischen Formelkompromisses – so würde es Carl Schmitt bezeichnen – wurde die Entscheidung vertagt, um sie erneut zu vertagen. Es ist eine Politik, welche kein Vorfeld kennt. Die deutsche Politik des Postmillenniums ist eine Politik der Synthese von allem, und ohne den Gedanken eines politischen Prozesses des Findens, der Überzeugung und der „echten“ Diskussion.
Es kommt in der Langstrecke zu keiner Neugründung eines neuen gründungsmythologischen Bewusstseins. Die ehemalige DDR wird der Bundesrepublik einfach angegliedert. Die Zeit der 90er-Jahre ist nicht mehr die Zeit der Religion. Die Säkularisierung ist in allen Lebensbereichen fortgeschritten. Man unterlässt also die Schaffung eines neuen Gründungsmythos. Auch der reinste Verfassungspatriotismus eines Dolf Sternberger und Jürgen Habermas konnte sich – zumindest gerade zu dieser Zeit – nicht durchsetzen. Der Rechtsstaat ist zwar eine norma normans(normierende Norm), welche jedoch die Identitätsfrage in concreto allenfalls nur de jure löst. Das heißt: Man ist Staatsbürger – oder man ist es nicht. Dies hat aber sachlich wenig mit einer genügenden Antwort auf die kulturelle Identitätsfrage eines wiedervereinten Deutschlands zu tun.
Es ist also ein großes Vakuum entstanden. Der Vater der Wiedervereinigung, nämlich Helmut Kohl, musste jedoch aufgrund eines Korruptionsskandals zurücktreten. Das Vakuum wurde noch größer.
Der deutsche Westen gewinnt gemeinsam mit den USA den Kalten Krieg, gedanklich verliert Deutschland ihn jedoch an ein neues freudo-marxistisches Konstrukt – also eine Abwandlung und Weiterführung des DDR-Sprechs –, nämlich an den „Marsch durch die Institutionen“ der Frankfurter Schule, welcher sich als angeblich reiner Intellektualismus tarnt. Komischerweise wurde der DDR-Sprech der Mauer – der „antifaschistische Schutzwall“ – nun geistlich ausgeprägt.
Der Gedanke Gramscis, nämlich der kulturellen Hegemonie, wird von linker Seite zwar erreicht, aber mit einer konservativen Struktur des Rechtsstaates synthetisiert: ein Wertemarxismus mit konservativen Strukturen. Kein Wunder, dass die Zeit wenige Jahre später reif wurde für eine Kanzlerin, die genau das verkörperte – gemeint ist Angela Merkel. Diese verkörpert den Zeitgeist jener Jahre, nämlich die Entmythisierung der Politik bei gleichzeitiger Beibehaltung marxistischer Werte und konservativer Strukturen.
Der antifaschistische Schutzwall der DDR hat heute einen neuen Namen: Brandmauer.
Grundmythen und Gründungsmythen sind sehr wichtig. Warum diese Mythen und ihre Verwandten wie die Metaphern und die Anekdoten für das Selbstverständnis eines in einem Staat lebenden Volkes so bedeutend sind – auch bei nicht religiös-mythischem Material – und warum das Unterlassen des Kreierens eines echten und gleichberechtigten Gründungsmythos nach Ansicht des Autors dieses Essays gerade bei der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten so problematisch war, lässt sich als Leitgedanke dieses Essays zusammenfassen.
Ein Gründungsmythos ist zunächst eines: eine Geschichte des Anfangs und des Neubeginns. Dabei wird gehäuft legitimatorisch auf alte Erzählungen zurückgegriffen. Es ist jedoch kein „Muss“, die Vergangenheit neu zu stilisieren. Vielmehr ist es ein Muss, eine Gründung zu erklären oder, noch stärker, zu verkörpern. Eine Gründung und ihr Mythos sind eine Erklärung der Begründung von neuen öffentlichen Dingen.
Dabei geht es in diesem Essay nicht nur darum, den Gründungsmythos als solchen zu beleuchten, sondern auch die Arbeit am Gründungsmythos – d.?h. die Rezitation, Interpretation, Auslegung und realisierte Anwendung desselben –, von welchen sich Grundregeln ableiten lassen. Alexander Gauland bezog sich in seiner Rede zum Hambacher Fest (2018) auf den berühmten Ernest Renan, welcher in seinem Pariser Vortrag „Was ist eine Nation?“ an der Sorbonne behauptete, das Dasein einer Nation sei ein „tägliches Plebiszit“.
Dieser Einschätzung von Renan würde ich weiterführend hinzufügen – abgesehen davon, dass die französische Deutung des Begriffs der Nation nicht auf das deutsche Volk übertragbar ist –, dass es möglicherweise ein tägliches, aber kein beliebiges Plebiszit bzw. keine beliebige Entscheidung ist. Vielmehr interpretieren, restaurieren und weben wir (mythologisch gesprochen) innerhalb einer gewissen gedanklichen Schranke weiter und bedienen uns eines kontextuellen Verstehenshorizonts. Genau dies bezeichne ich als politisches Axiom oder Vor-Urteil, welches sich bei so manchem auch mit dem Gründungsmythos eines Staates deckt. In Deutschland ist es die Idee des Rechtsstaats.
Die Färbung (im Sinne einer aristotelischen Akzidenz) des Gründungsmythos der Idee des Rechtsstaats (Substanz) der frühen Bundesrepublik war von christlich-katholischer Farbe bzw. Natur. Adenauer brauchte jedoch eine neue Partei. Die Legitimation der Zentrumsnachfolge wäre zu komplex gewesen, und die Neugründung einer Partei machte ihn auch direkt zum Gründungsvater seiner neuen Partei – nämlich der CDU. Man befand sich dennoch in legitimatorischer Erklärungsnot.
Die Thesen der Kritik an den Folgen der Neuzeit, welche mehr oder weniger direkt oder über Umwege zur Zeit des Nationalsozialismus führten, waren gehäuft vertreten. Die Aufklärung, welche stark deutsch geprägt war, soll durch das Erwecken der „industriellen Vernunft“ zum Nationalsozialismus geführt haben – so zumindest die These Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese These fand starken Anklang, vor allem in den 68er-Jahren. Diese gibt es auch im katholisch-konservativen Denken, nämlich dass die Neuzeit und ihre Kulmination im Nationalsozialismus ein gottloser Abklatsch oder, wie es in der Fachterminologie heißt, ein „Säkularisat“ des Mittelalters – z.B. eines Thomas von Aquin – sei.
Die DDR wiederum betonte den „Antifaschismus“ als Gründungsmythos. So seien nach dem Zweiten Weltkrieg alle echten Antifaschisten in die DDR gereist, gegen eine angebliche kapitalistische Nachfolge des Nationalsozialismus. So hieß in DDR-Sprache die Mauer auch „antifaschistischer Schutzwall“. In Wirklichkeit ist jedoch vor allem Bertolt Brecht in die DDR gereist – möglicherweise aufgrund dieser besagten Stilisierungen der DDR.
Doch was genau ist ein Beispiel für einen weiteren Gründungsmythos? Ein kurzer Ausflug zu den antiken Griechen:
So stellt der griechische Dichter Pindar in seiner ersten nemeischen Ode das Zunicken des Zeus zur Persephone dar – als Zustimmung für die Gründung von apoikiai (Stadtkolonien) auf Sizilien. Das Gedicht fängt jedoch zuerst mit einem anderen Inhalt an: nämlich wurde die Flussgöttin Artemis von dem Flussgott Alpheios, welcher aus der Quelle der Arethusa entstand, verfolgt. Pindar arbeitet sich hier an einer Sage ab. So ist bei Pindar auch die Bezeichnung für Ortygia zu finden, welche wiederum „[…] den alten Stadtkern der Kolonie Syrakus bildete“ (Miller, Die griechische Kolonisation, 146).
So ist, zumindest nach der Überlieferung Pindars, zu verstehen, dass Alpheios seine Geliebte Artemis innerhalb des Wassers suchte. An der genannten Quelle Arethusa atmet nun dieser daimon – hier im griechischen Sinne als Gott gemeint – auf. Er taucht also und ringt nach Atem. Das Aufatmen (apneuma) ist hier wiederum allegorisch aufzufassen, als „Atemholen“ und „Ausatmen“ eines Schwimmers oder Athleten nach einer körperlichen Anstrengung. Der Schwimmer ist jedoch allegorisch gesehen hier der Fluss. „Der Fluss atmet nach der Unterquerung des Meeres als Schwimmer auf, das Zutagetreten der Quelle ist Ausstoßen des Atems; vermenschlichte Gestalt und Naturbereich sind paradox miteinander verknüpft“ (ebd.).
Dies erinnert an die klassische anthropomorphe Darstellung der Götter der Griechen, in welcher eine Projektion der menschlichen Verhaltensmuster auf die Götter – wie z.?B. das Aufatmen – geschah. Die Hauptaufgabe des Gründungsmythos ist aber „[…] dass in ihm der thessalische Fluss geographisch mit der Insel Ortygia vor Sizilien verbunden wird. Solche Sagen, die Kolonialstädte mit dem griechischen Mutterland in Beziehung setzten, verwendet Pindar besonders gern, um die Herkunftsorte der von ihm gepriesenen Sieger in enger Verbindung mit den Göttern und Heroen des Mutterlandes zu zeigen“ (Miller, Die griechische Kolonisation, 147). So haben wir es hier – genau wie auf der Insel Ortygia – mit einer Mythologisierung der Beziehung zwischen Mutterstadt und Tochterstadt zu tun. So beschreibt Pindar in seiner „9. Pythie“, dass die thessalische Nymphe Kyrene den gleichen Namen trägt wie die Kolonie in Libyen, sodass er eine sprachliche Verwandtschaft aufbaut, welcher nicht gerade selten eine inhaltliche folgt.
Der Mythos verknüpft Politik, Geschichte und Geographie zu einem gemeinsamen Feld. Mythenhermeneutik ist hier also durch und durch angesagt. Das heißt Interpretation, das heißt Diskussion – und letztendlich heißt das: Politik. Pindar will durch die Dichtung einen Zusammenhang von Mutterstaat und Kolonie herstellen, welche unter anderem auch in weiteren Gedichten als „Mutter“ und „Kind“ bezeichnet werden.
Wir haben in Deutschland genug Nationaldichter, welche in Form eines Gedichts die Wiedervereinigung zelebrieren könnten, genug Epen wie z.?B. das Nibelungenlied etc. Doch dies ist bewusst nicht gewollt. Jeglicher nur anklingende romantische Mythos wird als brandgefährlich verstanden. Schließlich könnte doch alles nationalistisch missbraucht werden – so der heutige Gedanke. Doch ganz mit Ernst Jünger gesprochen: „Zum Mythischen kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder.“ (Waldgang, S.?43)
Solange die beiden Staaten (DDR und BRD) nebeneinander koexistierten, griffen die beiden Gründungsmythen mehr oder weniger – bis auf einmal die Wiedervereinigung kam. Hier bricht ein schon lange vor sich hinsterbender Mythos der DDR endgültig zusammen. Es bricht jedoch nicht nur die Mauer am 9. November zusammen, sondern auch die klassische Antwort auf die Identitätsfrage. Die aktuelle Gesamtheit der Deutschen – und somit auch das Selbstverständnis – ist nicht mehr dieselbe. Die Identitätsfrage muss neu beantwortet werden.
Spoiler: Sie wird nicht beantwortet.
Man könnte zwar sagen: Doch, es ist wieder einmal der Rechtsstaat. Doch diese Antwort genügt nicht (mehr). Innerhalb eines dilatorischen Formelkompromisses – so würde es Carl Schmitt bezeichnen – wurde die Entscheidung vertagt, um sie erneut zu vertagen. Es ist eine Politik, welche kein Vorfeld kennt. Die deutsche Politik des Postmillenniums ist eine Politik der Synthese von allem, und ohne den Gedanken eines politischen Prozesses des Findens, der Überzeugung und der „echten“ Diskussion.
Es kommt in der Langstrecke zu keiner Neugründung eines neuen gründungsmythologischen Bewusstseins. Die ehemalige DDR wird der Bundesrepublik einfach angegliedert. Die Zeit der 90er-Jahre ist nicht mehr die Zeit der Religion. Die Säkularisierung ist in allen Lebensbereichen fortgeschritten. Man unterlässt also die Schaffung eines neuen Gründungsmythos. Auch der reinste Verfassungspatriotismus eines Dolf Sternberger und Jürgen Habermas konnte sich – zumindest gerade zu dieser Zeit – nicht durchsetzen. Der Rechtsstaat ist zwar eine norma normans(normierende Norm), welche jedoch die Identitätsfrage in concreto allenfalls nur de jure löst. Das heißt: Man ist Staatsbürger – oder man ist es nicht. Dies hat aber sachlich wenig mit einer genügenden Antwort auf die kulturelle Identitätsfrage eines wiedervereinten Deutschlands zu tun.
Es ist also ein großes Vakuum entstanden. Der Vater der Wiedervereinigung, nämlich Helmut Kohl, musste jedoch aufgrund eines Korruptionsskandals zurücktreten. Das Vakuum wurde noch größer.
Der deutsche Westen gewinnt gemeinsam mit den USA den Kalten Krieg, gedanklich verliert Deutschland ihn jedoch an ein neues freudo-marxistisches Konstrukt – also eine Abwandlung und Weiterführung des DDR-Sprechs –, nämlich an den „Marsch durch die Institutionen“ der Frankfurter Schule, welcher sich als angeblich reiner Intellektualismus tarnt. Komischerweise wurde der DDR-Sprech der Mauer – der „antifaschistische Schutzwall“ – nun geistlich ausgeprägt.
Der Gedanke Gramscis, nämlich der kulturellen Hegemonie, wird von linker Seite zwar erreicht, aber mit einer konservativen Struktur des Rechtsstaates synthetisiert: ein Wertemarxismus mit konservativen Strukturen. Kein Wunder, dass die Zeit wenige Jahre später reif wurde für eine Kanzlerin, die genau das verkörperte – gemeint ist Angela Merkel. Diese verkörpert den Zeitgeist jener Jahre, nämlich die Entmythisierung der Politik bei gleichzeitiger Beibehaltung marxistischer Werte und konservativer Strukturen.
Der antifaschistische Schutzwall der DDR hat heute einen neuen Namen: Brandmauer.
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