Gesichtet

Neustart im Heimatland

Lassen sich Migrationsursachen bekämpfen und wenn ja, wie? Ein Gespräch mit dem Afrika-Experten Volker Seitz.

BlaueNarzisse.de: Sehr geehrter Herr Seitz, im Laufe der letzten eineinhalb Jahre war in Deutschland viel die Rede davon, man müsse die Migrationsursachen in Afrika bekämpfen. Halten Sie dies für realistisch und hat die Bundesregierung hierfür schon den richtigen Weg gefunden?

Volker Seitz: Es ist verständlich, dass weite Teile der Öffentlichkeit die so oft gehörte Losung von der Notwendigkeit, das Flüchtlingsproblem dort zu lösen, wo es entstanden ist, für völlig einleuchtend halten. Diejenigen allerdings, die seit langem mit Entwicklung befasst sind, wissen, dass die Erwartungen nicht erfüllt werden.

Hilfe von außen scheitert in Afrika meist an den völlig anderen Traditionen und Mentalitäten vor Ort. Es geht nicht um einzelne fehlgeleitete Projekte, sondern um die komplette Strategie. Entwicklungs-„Hilfe“ heute exportiert westliche Vorstellungen von Armut, Reichtum und Konsum in traditionelle Gemeinschaften und hält arme Regionen in ungesunden Abhängigkeitsverhältnissen.

In Ihrem Buch Afrika wird armregiert kritisieren Sie die „konventionelle“ Entwicklungshilfe scharf. Welche Alternativen dazu gibt es?

Die effizienteste Hilfe ist Bildungs- und Wirtschaftsförderung. Eine Investition in Wissen bringt die besten Zinsen. Es wäre sinnvoll, den Flüchtlingen eine Rückkehr und eine Ausbildung im Heimatland zu bezahlen. Europäische Staaten könnten in den Ländern, aus denen die meisten Migranten kommen, duale Berufsausbildungszentren eröffnen, in denen die Ausbilder vor Ort die Lebensumstände der Migranten kennenlernen würden. Denkbar wäre auch eine europäische Berufsausbildungsinitiative, eine Art Senior Expert Service.

Es gibt nach meiner Erfahrung genug europäische Handwerker im Rentenalter, die gerne ihr Wissen weitergeben würden. Europäische Entwicklungshilfegeber könnten für ein paar Jahre Wagniskapital zur Verfügung stellen. Die dann gegründeten Unternehmen, etwa in allen Handwerksbereichen, in Infrastruktur, Lebensmittelverarbeitung, Medizintechnik, Biotechnologie, Pharmazie und IT, würden dringend benötigte Arbeitsplätze schaffen.

Über Länder-Patenschaften könnten einige der Fluchtursachen bekämpft werden. Auch würde sich Europa durch den Fokus auf einzelne Staaten, etwa im Trockengürtel des Sahel, aus dem die meisten afrikanischen Migranten stammen, bei seinen Hilfsaktionen weit weniger als bislang verzetteln. Wir sollten dabei nur Staaten unterstützen, die bereit sind, die eigene Regierungsarbeit und zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung, wie etwa die berufliche Bildung, konsequent zu fördern. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die Massen von Jugendlichen in Brot und Arbeit zu bringen.

Die staatliche Entwicklungshilfe sollte Patenschaften für Migranten übernehmen, indem ihnen ein Neustart in ihrem Heimatland finanziert wird. Dies könnte ein Handwerksbetrieb, Saatgut, ein gebrauchter Kleinlaster, Taxi etc. sein.

Thomas Piketty stellt in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert heraus, daß „das Nationaleinkommen der Bewohner des afrikanischen Kontinents um etwa 5 % niedriger als ihre Inlandsproduktion“ ist. Das heißt: Afrika ist produktiver, als es das Einkommen widerspiegelt. Ausländische Unternehmen verdienen also überproportional viel in Afrika mit. Das wiederum – so Piketty – führe zu kaum unterdrückbaren Forderungen nach Enteignungen. Die Länder seien deshalb in einem „ewigen Kreislauf wechselnder Regierungen gefangen“. Die einen wollen Enteignungen, die anderen den Schutz von Eigentumsrechten, um Investoren anzulocken. Wie kann Afrika diesem Dilemma entkommen?

Thomas Piketty ist mir nicht als Afrika-Kenner bekannt. Seine Thesen sind im übrigen in seinem Heimatland und den USA umstritten. Die Industrialisierung auf dem Kontinent kommt nur schleppend voran, die Landwirtschaft kann nicht einmal den Bedarf der eigenen Bevölkerung decken. Global betrachtet spielt Afrika immer noch eine geringe Rolle. Sichtbar wird der Aufschwung allenfalls in Wirtschaftsmetropolen wie Luanda, Johannesburg, Kapstadt, Abidjan, Accra oder Nairobi. Lediglich 5,6 Prozent der globalen Auslandsinvestitionen entfallen auf den Kontinent. Mehrere afrikanische Staaten stünden am Anfang einer Entwicklung wie viele asiatische Wachstumsmärkte vor 30 Jahren, resümierten  die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young.

Die meisten dieser Länder schnitten im internationalen Vergleich schlecht ab, auch die mit hohen Wachstumsraten. Etwa zwei Drittel der untersuchten Staaten hätten schlechte Entwicklungsaussichten, vor allem instabile Länder mit politischen Unruhen und Bürgerkriegen. „Dort kann man auf keinen Fall von einer positiven Wachstumsdynamik sprechen. Da ist das Einkommen so niedrig und die Bevölkerung teilweise so degradiert und gar nicht in Wirtschaftsprozesse eingebunden“, sagt Prof. Robert Kappel vom Hamburger GIGA Institut.

Afrika fehlt es an guten Institutionen. Nur gut funktionierende Institutionen ziehen produktive Unternehmer an. Dann wächst der Wohlstand. Die größten Chancen Afrikas bestehen, wenn der afrikanische Binnenmarkt besser entwickelt wird. Der Handel zwischen den afrikanischen Ländern liegt bei gerade einmal 11,3 Prozent des afrikanischen Gesamthandels. Zum Vergleich Asien 50 % und Europa 70 %.

Es müssen größere grenzüberschreitende Räume geschaffen werden. Von der Kräftebündelung könnten alle Staaten profitieren. Afrika muß wirtschaftlich an Fahrt gewinnen, die Länder müssen weitaus enger zusammenarbeiten. Debatten über diese wichtigen Fragen finden aber in Afrikas Parlamenten kaum statt.

Angesichts des Bevölkerungswachstumes in Afrika: Wird sich der Kontinent irgendwann – sagen wir einmal: 2050 – selbst ernähren können?

Wenn das Bevölkerungswachstum so weiter geht, wird sich der Kontinent nicht selbst ernähren können. Jeden Tag wächst Afrikas Bevölkerung um über 200.000 Menschen, um 1,5 Millionen jede Woche – einmal München. Jedes Jahr sind es über 73 Millionen neue Afrikaner – neunmal Österreich. Um diese Bevölkerungsvermehrung versorgen zu können, brauchte man mindestens 6 bis 7 Prozent Wirtschaftswachstum. Das haben die wenigsten afrikanischen Staaten. Bildung, Gesundheitsaufklärung, Geburtenkontrolle tragen zur Stärkung der Rolle der Frauen bei. Eine Zwei- oder Drei-Kinder-Familie würde Kindern eine bessere Zukunftsperspektive ermöglichen, als dies mit sechs oder mehr Kindern gelingen kann. Heute haben Frauen eine zu schwache soziale und rechtliche Rolle, dass sie keine Familienplanung betreiben können.

Auf welche globalen Folgen bzw. nationalen und internationalen Verteilungskämpfe sollten wir uns im Hinblick auf das afrikanische Bevölkerungswachstum einstellen?

Schon Mark Twain wußte, dass Prognosen schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Mit den Imamen, die die Verhütung als Versuch des Westens sehen, die Entwicklung des Landes zu blockieren, muss endlich gesprochen werden. Der Ansatz von Entwicklungsminister Müller, mit moderaten religiösen Führern zusammenzuarbeiten, um die heikle Frage der Familienplanung anzugehen, ist richtig. Leider folgten der Ankündigung bislang keine Taten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Volker Seitz war 17 Jahre als Diplomat in Afrika tätig. Sein Buch Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann erschien 2014 bei dtv in 7. überarbeiteter und erweiterter Auflage.

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Geboren 1985 in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz). Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik und BWL in Halle. Lebt in Meißen.

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