Gesichtet

Der gewollte Schiffbruch des Natürlichen und seine Zuschauer

Dieser Essay will pointiert und fragmentarisch aufzeigen, wie der Schiffbruch des Natürlichen von modernen Kulturkritikern gewollt ist, in welchem diese die Zuschauerposition einnehmen wollen.

Es soll das Ausmaß des Subtilen und Perfiden dieser Kulturkritiker dargestellt werden, welche die Kultur eben nicht, wie Herder als Fortführung der Natur verstehen, sondern einer Radikalkritik unterziehen. Doch Kultur ist nicht nur eine Fortführung der Natur. Kultur ist auch die ewige Mitspielerin, nämlich die Geschichte und somit auch Teil des „Stromkreis[es] des geschichtlichen Lebens“ (Gadamer), aus dem man sich in Wirklichkeit zu verstehen vermögen sollte.

Der Mensch ist vor allem eins, ein Naturwesen. Völlig richtig erkannte dies Johann Gottlieb Herder, welcher den Menschen als einen „Freigelassenen“ der Natur verstand. Dies bedeutet zweierlei: Auf der einen Seite ist der Mensch ein Sklave der Natur gewesen, wurde aber wiederum von dieser freigelassen. Der Mensch ist, ohne seine sklavische Vorstufe der Natur gegenüber aber nicht zu denken.

Da der Mensch ein „Naturwesen“ (Cordemann über Herder) ist, kann er seine Herkunft nicht verleugnen, so ist es kein Wunder, dass dieser Analogien und Metaphern zum größten Unbekannten und zum größten geheimnisvollsten Anderen innerhalb seines anthropologischen Horizonts bildet, nämlich dem Meer und seine Risiken. Der geheimnisvolle Andere, also das Meer, welches bei Carl Schmitts Werk Land und Meer auch als „geheimnisvoller[r] Urgrund allen Lebens“ beschrieben wird, dieser Urgrund wird jedoch gerne eher aus der Ferne betrachtet, bzw. der Mensch versteht sich primär als auf der Erde seiend, bzw. definiert nach Schmitt die Erde, als seinen „Standpunkt und Boden“.

Umso mehr wird die Schifffahrt, das Wagen auf das unbekannte, lange Zeit auch als unlenkbare und unberechenbare gedachte Meer innerhalb des anthropologischen Horizontes zentralisiert. Gerade die besagte Schifffahrt weist aufgrund der benannten Unberechenbarkeit bei der Menschheit einen Hang zum Mythos auf. Hans Blumenberg erklärt eindeutig, dass das Meer entweder dämonisiert worden ist oder eben als „naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen“ (Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, 10) verstanden worden ist.

Im Christlichen, wie es auch Blumenberg weiter beschreibt, ist das unbekannte Meer nicht nur ein Symbol des Bösen, sondern auch ein „Erscheinungsort des Bösen“ (Blumenberg, SmZ, 10). Neben diesen Bestimmungen, welche auch teils gnostisch aufgeladen sind, wird die Seefahrt in der christlichen Literatur als etwas Maßloses verstanden. Dieses Misstrauen gegenüber dem Meer ist aber nicht genuin christlich, sondern hat schon vorchristliche Wurzeln, nämlich bei Hesiod, dem berühmten Dichter der Theogonia. Schon dieser misstraute dem Meer aufgrund von theologischen Gründen. Das Meer ist eben nicht ganz der Herrschaftsbereich des Zeus, vielmehr wirkte hier Poseidon, ein Gott, der die Erde erschüttert. (Vgl. Blumenberg, SmZ, 11.)

Zuschauer kosmischer Gewalten oder Schiffbruch erleiden

Warum der Titel dieses Essays „Schiffbruch des Natürlichen und seine Zuschauer“ trägt, ist vor allem der Grund, welchen Blumenberg bei Lukrez anführt. Lukrez ist ebenfalls wie der frühe Hesiod, eigentlich ein Kritiker der Seefahrt, jedoch eben nicht aus theologischen Gründen, was ihm zum Vordenker der Kulturkritiker macht, er führt den Begriff des Zuschauers ein und das ist von hervorzuhebender Bedeutung. Der Mensch darf seine „Naturwelt“ nicht verlassen, sonst blüht ihm eben ein radikaler Schiffbruch. Der Mensch soll eben die Rolle des Zuschauers bei den Gewalten des Kosmos einnehmen und nicht diese versuchen zu erobern. Damit sagt uns Lukrez einiges über den Begriff der Kultur aus: Der Begriff und seine Entsprechung sind dabei angeblich auszuarten. Die Kultur ist somit angeblich expansiv, einnehmend und erobernd, wenn man eine strikte Kultur/ Naturwelt Trennung verfolgt, wie sie doch von vielen verfolgt wird. Die Mahnung des Lukrez ist zwar ein stetiger Gedanke, welchen man nicht vergessen sollte, dennoch wirkt hier die Kultur als menschliche Konstruktion, welche versucht den Kosmos einzunehmen, aber kläglich scheitert. Das Echte und Reale soll also bei Lukrez nicht die Kultur sein. Die Natur wird hier also von Lukrez gegen die Kultur ausgespielt, die Kultur wird also nicht, wie in diesem Essay, als Fortführung der Natur verstanden. Dabei ist es bei den Linksdenkenden genauso, nur dass hier nicht mehr die Naturwelt das Sagen hat, die Naturwelt wird durch die angebliche soziale Realität ersetzt. Die Kulturkritik bleibt.

Die Kultur ist in Wirklichkeit jedoch, ganz nach Herder, wie gesagt, eine Fortführung der Natur.

Wobei eindeutig gesagt werden muss, dass man bei dem Begriff der Kultur streng genommen zwischen zwei Begriffen unterscheiden muss. Kultur I, ist die holistische und somit ganzheitliche Kultur, d.h. das, was der Mensch ganzheitlich schuf. Diese Kultur I differenziert sich jedoch in einen weiteren Begriff, nämlich in Kultur II. Denn jede Kultur ist stets die Kultur von jemandem. Wenn man Kultur im Großen spricht (Kultur I) nimmt man einen ganzheitlichen Blick ein, im Sinne der Kultur des Menschen. Dieser Mensch lebt und denkt jedoch in einem Raum und hat kulturelle Axiome und auch kulturelle Eigenheiten. Kultur II ist also der Begriff in concreto. Kultur II ist Heimat und ganz etymologisch die „Pflege“ der eigenen Traditionen und der Geschichte.

Durch diesen Perspektivenwechsel ist es nur logisch, dass der Mensch dabei Natürliches beibehält, da dieser aus der Natur entstammte. Das Natürliche, was der Mensch eindeutig beibehalten hat, ist z.B. das männliche und weibliche Geschlecht. Aber nicht nur dies auch ein Gefühl für seine Heimat, seine Familie und für die Grenzen seines Stammes oder Landes. All dies ist im Menschen verankert, somit lohnt sich der Blick ins Archaische.

Der Mensch ist von Natur aus zu langsam, um zu fliehen und zu schwach, um gegen Raubtiere zu kämpfen. Er braucht die Technik (Wurfgeschoße, Fallen etc.), d.h. eine Form von Kultur I, welche sich wie gesagt in Kultur II ausdifferenziert, um zu überleben.

Natur wird hiermit verstanden als natura naturata (geschaffene Natur) aber auch als natura naturans (Die Natur, die selbst schafft). Durch diesen Gedanken ist ein stetiger Bezug zur Natur des Menschen in seiner Natürlichkeit gegeben. Dieser Denkweg ist jedoch nicht die communis opinio (Mehrheitsmeinung), sondern die Mindermeinung. Dabei darf man die Natur natürlich nicht überinterpretieren und zur Religion aufschwingen, indem man das Klima transzendiert, denn hier redet man nur, in der Blumenbergischen Terminologie, von der nackten Natur, welche noch nicht einmal als natura naturata (geschaffene Natur) zu verstehen ist, denn dies würde aussagen, dass es Gott gibt, der die Natur erschaffen hat, etwas, was die Linksdenkenden im Großen und Ganzen verneinen, aber auch nicht von der Natur, welche als Fortführung zur Kultur verstanden werden kann (natura naturans).

Radikaler Subjektivismus

Ein weiterer geistiger Vater der Kulturkritiker ist der Philosoph der Neuzeit, nämlich Descartes. Dieser setzte die Meilensteine für den radikalen Subjektivismus, welchen bei modernen und linken Kulturkritikern zum Vorschein kommt. Durch seine Meditationen versuchte sich Descartes nicht nur nicht an vorheriges Denken anzuschließen, vielmehr setzt Descartes jeglicher Wissenschaft unter radikalem Verdacht der Täuschung. Der genius malignus (der böse Geist) könnte alles getäuscht haben. Das Einzige, was vor allem gesichert existieren muss, ist das eigene Ich, denn jemand muss den Gedanken denken, denn der Gedanke denkt sich nicht von selbst. Ein großer Kritiker Descartes war Leibniz. Dieser kritisierte Descartes im doppelten Sinne. Auf der einen Seite banalisierte er den „Discours de la Methode“, aber auf der anderen Seite und dies für unsere Erörterung sehr spannend, kritisierte er Descartes Denken in dem Sinne, dass dieser, also Descartes, nicht wusste, welche Konsequenzen solch ein Denken für die Nachwelt haben werde.

Das Unbehagen in der Kultur

Ein Repräsentant der Moderne wiederum ist Freud. Freud schrieb sein kulturkritisches Werk 1931. Dabei sei die Kultur eine Art Hemmer der Auslebung von Trieben.  Des Weiteren sei die Kultur schuld an der Ersetzung der Macht des Einzelnen. Sie führe zu einer Macht einer pluralistischen Gruppierung. Gerade diese Pluralisierung führe laut Freud zu einer Beschränkung der „Befriedigungsmöglichkeiten“. Wiederum setzt sich hier ein Denkweg des radikalen Subjektivismus durch, welchen wir schon von Descartes kannten. Dieses Mal wird der Subjektivismus aber gesellschaftlich begründet. Die Kultur würde also durch die Pluralisierung, die Macht des Einzelnen stark beschränkt.

Eine Repräsentantin dieser Nachwelt, welche als die „moderne Vordenkerin“ und Planerin des gewollten Schiffbruches des Natürlichen zu verstehen ist, ist Judith Butler. Diese versucht in ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, der Titel versucht die Bedeutung der Kulturkritik hervorzuheben, schließlich schrieb Freud, das Unbehagen der Kultur, das Geschlecht so darzustellen, dass dieses von der Kultur, Gesellschaft und Recht anerzogen worden ist. Der Bezug zu Freud ist eindeutig, denn die Kultur ist schuld an der Pluralisierung, sie verbietet laut Freud die radikale Freiheit des Einzelnen. Es ist kein weiter Weg mehr zu Butler, da sie innerhalb dieses Denkweges eben agiert. Dabei wird wie schon bei Freud ein Kerngrundzug des Menschlichen völlig übersehen, nämlich, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und die Pluralisierung in ihm angelegt ist. Das Geschlecht ist nach Butler eine kulturelle Konstruktion. Grundlage hierfür bietet die Feministin Simone de Beauvoir, welche betonte, dass man erst zur Frau wird, dies ist Butlers Hauptthese, welche diese mantrisch wiederholt:

„Wenn Beauvoirs These, daß man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern dazu wird, tatsächlich etwas richtig ist, folgt daraus, daß die Kategorie Frau selbst ein prozessualer Begriff, ein Werden und ein Konstruieren ist, vom dem man nie rechtmäßig sagen kann, daß es gerade beginnt oder zu Ende geht.“ (Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 60)

Butler führt die These weiter und verbindet diese mit einer Figur, welche z.B. Lacan als das Imaginäre bezeichnet hat. Das Imaginäre ist ein Bild, in den Köpfen der Menschen, man versucht sich diesem anzunähern, man kann es aber nicht final erreichen, da es nicht real ist.

Durch diesen künstlichen Eingriff, neben anderen, versucht Butler das gesamte Geschlecht unter dem Deckmantel der sozialen konstruierten Täuschung zu stellen. Es ist angeblich ein kultureller genius malignus (böser Geist).

Das Natürliche, hier ist vor allem das Geschlecht, gemeint, wird negiert, und als von der Kultur beladen stilisiert. In anderen Schriften erkennt man bei Butler auch schnell, wohin die Reise geht, wenn sie die Benennung bzw. Namensgebung eines Kindes als eine Art Fremdbestimmung deutet. Wiederum durch diesen künstlichen Eingriff wird die Familie angegriffen, da nur die Eltern das Recht besitzen, einen Namen für ihr Kind auszuwählen. Es geht darum, die natürliche Bindung des Kindes zu seinen Eltern als etwas Negatives aufzuladen, es zu beschämen und in die Reihe der negativen Bestimmungen der ach so bösen Kultur zu stellen.

Die modernen Kulturkritiker wollen die Kultur ad absurdum führen. Sie wollen keine rettende Kritik, sondern unterziehen die Kultur (vor allem Kultur II) einer Radikalkritik.

Sie wollen den Untergang des Natürlichen und dabei die Zuschauerperspektive einnehmen.

Doch weder die Kultur noch die ursprüngliche Natur und zusätzlich das Klassische, damit sind die großen Kulturwerke gemeint, welche nach Gadamer bewahrend und bewährend sind, lassen sich nicht einfach zu einem Schiffbruch führen, oder mit den Worten Rilkes:

Solang du Selbstgeworfenes fängst, ist alles 

Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn -;

erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,

den eine ewige Mitspielerin

dir zuwarf, deine Mitte, in genau

gekonntem Schwung, in einem jener Bögen

aus Gottes großem Brückenbau:

erst dann ist Fangen-können ein Vermögen, –

Nicht deines, einer Welt.

Entdecke mehr von Blaue Narzisse

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Datenschutzinfo