Rezension

Jenseits des Kanons (IV): „Kolberg“ von Paul Heyse

Die jüngste Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke soll Anlass sein, an den ersten Belletristen unter den deutschen Literaturnobelpreisträgern zu erinnern. Die Rede ist von einem der größten Protagonisten der deutschen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, ein Name und Werk an dem sich die Gemüter seiner Zeitgenossen schieden und von dem Theodor Fontane glaubte, dass er seine Epoche kennzeichnen würde – auf das Goethe-Zeitalter sollte einst ein Heyse-Zeitalter folgen.

Das Gegenteil war dann jedoch der Fall: Paul Heyse, von seinen jungen, naturalistischen Gegenspielern als veraltet und geschmacklos verbrämt, geriet zunehmend in Vergessenheit. Heute erinnern nur noch vereinzelte Straßennamen an den einstigen Dichterfürsten und beliebten Gastgeber literarischer Zusammenkünfte aller Art.

Trotz seiner heutigen Vergessenheit war sein Schaffen dennoch nicht ohne Einfluss: im Kaiserreich galt Heyse als einer der liebsten Dichter der Deutschen, sein patriotisches Schauspiel „Kolberg“ über die Belagerung der gleichnamigen Stadt durch die napoleonischen Truppen Frankreichs wurde zur Schullektüre. 1945 veröffentlichte dann der Regisseur Veit Harlan kurz vor Kriegsende eine zum Durchhalten auffordernde Verfilmung des historischen Dramas – freilich musste Heyses jüdische Herkunft dafür unter den Tisch gekehrt werden.

Bedeutende preußische Stadt

Die heute in der polnischen Woiwodschaft Westpommern liegende Stadt Kolberg war schon seit frühester Zeit ein bedeutende preußische Stadt mit einem ausgeprägten Gemeinwesen und bürgerschaftlichen Zusammenhalt. Als Hafenstadt mit günstiger Lage galt sie schon zu Zeiten der Hanse als wichtiger wirtschaftlicher Knotenpunkt im Baltikum und setzte ihren Stolz in die reichhaltige Gewinnung von Salz, das sie nach ganz Europa exportierte.

Auch rühmte sich die Stadt Kolberg mit einer besonderen kriegerischen Zähheit – schon im siebenjährigen Krieg erwies sie sich unter Führung von Oberst Heinrich Sigismund von der Heyde als geradezu uneinnehmbare Festung. Den russischen Truppen gelang es erst nach der dritten Belagerung und massiven Verlusten in der eigenen Streitkraft die Übergabe der Stadt zu erzwingen.

Im Jahr 1807 folgte eine erneute Härteprüfung für die Kolberger Bürgerschaft und die sie schützende preußische Armee, im Zuge des Vierten Koalitionskrieges musste sie der Belagerung der übermächtigen Franzosen standhalten. Als die Nachricht vom Fall Danzigs ihre Runde machte, glaubte man auch Kolberg dem Untergang geweiht. Während der unermüdliche Einsatz des Freikorpsführers Ferdinand von Schill die französischen Streitkräfte immer wieder zurückschlug, setzte der alternde Generalmajor der preußischen Armee, Ludwig Moritz von Lucadou, auf militärische Zurückhaltung und Defensive.

Der Bürgerschaft, rund um den Volkshelden und gedienten Seefahrer Joachim Nettelbeck, war Lucadous passives Vorgehen unerträglich und Unruhe machte sich in der Stadt breit. Hier setzt Heyses historisches Schauspiel in fünf Akten ein, eingeführt werden neben dem Leutnant des Schillschen Freikorps Brünnow und dem eben genannten Joachim Nettelbeck auch Männer und Frauen des einfachen Volkes. Da gibt es die Witwe Blank und ihre zwei Kinder, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Vaterlandsliebe und die Aura Napoleons

Während ihre Tochter Rose in Vaterlandsliebe erglüht und am liebsten als deutsche Jeanne D’Arc für die Verteidigung Kolbergs sterben würde, ist ihr Bruder Heinrich nach einer Parisreise dem Macht und Glanz ausstrahlenden Nimbus Napoleons verfallen und hält jeglichen Widerstand gegen seinen Eroberungsfeldzug für vergebens und gar gefährlich. Besonders schön entfaltet sich der Konflikt der Geschwister in der zweiten Szene des Ersten Akts und erinnert an heutige Diskussionen, wo es heißt:

„Rose:
Er war ein Jahr auf Reisen, in Geschäften,
Und kam entfremdet aus der Fremde wieder.
Da schien ihm alles hier so eng und klein;
Sein Mund floß über von der Wunderstadt
Paris und dem, den sie vergötterte,
Dem korsischen Erobrer. Da vernahm ich
Zuerst ein Wort, des Sinn mir dunkel blieb:
Weltbürgertum

Brünnow:
Das Modenwort der Zeit!

Rose:
Wie? Fragt‘ ich, sind wir nicht alle Weltbürger,
Schon weil wir Menschen sind und Kinder Gottes?
Und hätte Gott die Länder und Nationen
Vielfach gemacht an Art und Eigenschaft
Wenn er nicht wollte, daß ein jedes Volk
In seinen Grenzen wohnte, mit den andern
In nachbarlichem Frieden, doch bereit,
Für seine Ehre mannhaft einzustehn,
Wenn sie der Nachbar schädigt?“

Beide sind auch Patenkinder Nettelbecks, der im Stück ein guter Freund ihres verstorbenen Vaters war. Unter den Akteuren der Bürgerschaft sind auch der Ratsherr Grüneberg  und der Stadtzimmermeister Geerz, der meist auf seinen Vorteil bedachte Kaufmann Schröder und der Schiffer Franz Arndt. Zwei unterhaltsame Nebenrollen belegen der Invalide und ehemalige Soldat Würges, der mit seinem losen Mundwerk gerne gegen den vergeistigt-intellektuellen und lateinkundigen Rektor Zipfel schießt.

Einigkeit im Kampf um Kolberg

Schnell fällt auf, dieses kämpfende Kolberg ist keines der Geschichtsbücher oder der idealisierten Propaganda: Es ist ein Haufen sperriger wie sympathischer Charaktere, eine Interessensgemeinschaft, die sich trotz allen Zwists einig ist, das Kolberg standhalten muss. Den entscheidenden Impuls gibt dann Nettelbeck selbst, als er einen Brief an den König aufsetzt und ihn darin darum bittet, das „alte Weib“ Lucadou endlich zu pensionieren und einen anständigen Kriegsherren nach Kolberg zu schicken.

Weil er aber zuvor schon gegen die Befehle Lucadous aufbegehrt hatte, muss Nettelbeck kurzzeitig in Haft und die Sendung des Briefes wird vorerst verhindert. An seiner statt reist die Patentochter Rose zum König. Unmittelbar darauf stellt sich aber heraus, dass die Bürgerschaft auf Nettelbeck nicht verzichten kann, leitet er doch die strategisch hochwichtigen Überschwemmungen um die Festung herum.

Trotz der anfänglichen Hindernisse gelangt Rose Blank zum König und kehrt mit dem Generalmajor Reithardt von Gneisenau zurück, der in einer ergreifenden Szene gemeinsam mit der versammelten Bürgerschaft schwört die Stadt bis zum Tode zu verteidigen. Der greise Nettelbeck wird zum engsten Berater Gneisenaus und zeigt sich geradezu verliebt in seine Tatkraft und Schicksalsergebenheit. Auch die Forderung Nettelbecks, endlich die Bürgerschaft Seit an Seit mit den preußischen Soldaten kämpfen zu lassen, wird erfüllt.

Währenddessen gärt der Konflikt zwischen Rose und Heinrich, letzterer erträgt den viel Opfer und Entbehrung fordernden Widerstand nicht und rebelliert offen gegen Gneisenau, indem er ihn mit einer Schusswaffe bedroht. Trotz der offenen Widerstreits ist hier aber ein Grundmotiv auf beiden Seiten gegeben: die Vaterlandsliebe.

Auch Heinrich zeigt sich nämlich überzeugt im Interesse Preußens und Kolbergs zu handeln, wenn er die Niederlegung der Waffen und Aufgabe der Stadt fordert. Doch die überwältigende Mehrheit der Stadt bleibt dem Kurs Gneisenaus treu und möchte Kolberg bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen.

Der Augenblick der höchsten Not

Bald jedoch schwindet den Kolbergern die Hoffnung auf die Verteidigung der Stadt, sie müssen herbe Rückschläge verzeichnen und die Erfolge der Franzosen werden immer größer. Als dann auch noch die Überschwemmungen aufgelöst werden, wird der einst hoffnungsvolle Widerstand zum vereinten Todesritt. Frauen und Kinder werden mit Schiffen aus der Stadt eskortiert, die Bürgerschaft sammelt ein letztes Mal ihre Kraft im Augenblick der entscheidenden Schlacht.

Es ist dieser Augenblick der höchsten Not und Verzweiflung, in dem die Bande der Blutsbrüderschaft geknüpft werden – auch wenn die Stadt verloren ist, möchte kein Mann kampflos aufgeben. Selbst aus der gegenseitigen Abneigung zwischen dem Invaliden Würges und dem Rektor Zipfel erwächst schließlich eine Verbrüderung, nachdem der Rektor in einer flammenden Rede über die Schlacht bei den Thermopylen die Kolberger Bürger zum letzten Kampf ermuntert. Arm in Arm schreiten Würges, Zipfel und dessen junger Sohn schließlich dem geglaubten Untergang entgegen, in der Hoffnung sich schließlich im Himmel wiederzusehen.

Und sogar der verlorene Sohn Heinrich zeigt sich im Angesicht des drohenden Untergangs bekehrt und wird am Ende zum Überbringer der entscheidenden Heilsbotschaft. Als die Stadt schon menschenleer und verlassen ist und die Verteidiger sich gebannt zum letzten Widerstand sammeln, erblickt Rose, die im Haus ihrer Mutter zurückgeblieben war, schließlich ihren Bruder Heinrich.

Mit einer Kopfwunde und der weißen Fahne in der Hand sprengt er zu Pferde über die Wiese – der vom französischen General Loison hinausgezögerte Waffenstillstand wurde nun offenbar und Kolberg damit gerettet. Das Schauspiel schließt mit dem Wort Gneisenaus:

„Herr Gott, dich loben wir! Laß dieses Saatkorn
Der Freiheit Wurzel treiben, daß es bald
Das ganze Deutsche Vaterland umschatte,

Und keines fremden Unterdrückers Fuß
Den heiligen geliebten Boden trete!
Doch dieses Höchste kann nur eins uns schaffen:
Ein treuverbrüdert Volk, ein Volk in Waffen!“

Zusammenfassend ist dies ein historisches Schauspiel eines vergessenen Schriftstellers über eine nahezu vergessene Stadt, das aber wie kein zweites ergreift und kräftigt. Es erinnert uns daran, wie selbstverständlich die Verteidigung des Eigenen sein sollte. Daran, dass unsere Heimat unser sicherer Hafen ist, den aufzugeben eine Todsünde wäre. Freilich wundert es nicht, dass den Nationalsozialisten dieser von Grund auf gesunde und natürliche Gedanke durchaus zum Instrument der Propaganda taugte, wenn ihr Expansionsstreben auch mit der Verteidigung des Eigenen, wie Rose Blank sie geschildert hatte, nicht sehr viel zu tun hatte. Umso mehr gilt es ein solches Stück wieder zu entdecken.

Auch jenseits der politischen Ebene ist „Kolberg“ ein Werk von höchster dramatischer Qualität und Spannung, das die verstaubte Alt-68er-Theaterszene gewaltig aufwirbeln könnte. Es wäre ein Stück ganz nach Art von Schillers Räubern, bei deren Uraufführungen das Publikum so ergriffen von der Darbietung war, dass es zu Tumulten kam.

(Bild: Paul Heyse von Adolph Menzel)

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