Rezension

Braucht eine offene Gesellschaft Grenzen?

Ich dachte immer zu Marcel Reich-Ranickis Behauptung, er könne am ersten Satz eines Buches erkennen, ob es sich lohne, es zu lesen oder nicht: Bei allem Respekt für den deutschen Literaturpapst, aber das kann nicht sein. Nun hat er aber postum Recht: Im ersten Satz seines Buches beruft sich Wolfgang Engler auf George Soros „In Defense of Open Society“. Eh nich, dachte ich. Es stimmt: Man kann an diesem Satz erkennen, daß es sich nicht lohnt, weiterzulesen. Ich hätte es nicht tun sollen und mir so die Enttäuschung mit diesem Buch Wolfgang Englers, den ich sonst sehr schätze, erspart.

Ich habe mich aber durch die Broschüre gequält. Vielleicht, weil ich erwartet hatte, daß da noch eine Auseinandersetzung mit Soros folgt, aber nein, Wolfgang Engler wirft dieses wie so viele andere Zitate aus seiner reichhaltigen Lesearbeit – Respekt! – einfach so hin. Nur mit Sir Karl Raimund Poppers offener Gesellschaft glaubt er, sich auseinandersetzen zu müssen. Das ist wohl jetzt Mode, wenn man die vielen jüngst zu Popper publizierten Bücher und Artikel wahrnimmt. Nein, dazu muß ich nicht auch noch etwas sagen.

Gnadenloser Wettbewerb

Wolfgang Engler teilt mit, daß die Leute am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz die Hinweise von Heiner Müller nicht hören wollten, daß der Kapitalismus eine ziemlich gnadenlose Wettbewerbsgesellschaft ist. Das hatten sie ja auch bereits in der Schule gelernt und Wolfgang Engler, wie ich auch, im Studium an der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität. Und er konnte das wohl auch bei seiner Amsterdamreise, die er privilegiert unternehmen durfte, 1988 unmittelbar wahrnehmen. Das hat er doch sicher auch seinen Studenten am Institut für Schauspielregie in Ostberlin und dann an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch mitgeteilt.

Die Bürger der DDR haben sich in Kenntnis dessen, daß das freiheitliche westliche System eines des scharfen Wettbewerbs ist, „dazu entschlossen […], frei zu sein“, wie Wolfgang Engler selbst bemerkt. Worauf er aber nicht hinweist, ist: Jeder wußte, es gibt im Wettbewerb Gewinner und Verlierer. Natürlich hofft jeder, nicht zu letzteren zu gehören, aber es gab mit der Wiedervereinigung viele Verlierer, aber auch Gewinner und Leute, denen es gelungen ist, obwohl sie erstmal verloren hatten, sich neu zu erfinden.

Wolfgang Engler mußte sich nicht neu erfinden. Er hat einfach das weitergemacht, was er schon in der DDR gemacht hat. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, denn er hat das gut gemacht – vor wie nach 1989. Aber sollte er nicht wenigstens irgendwie mitteilen, daß er nicht dazugehört, wenn er über die Verlierer redet?

Die Unkalkulierbarkeit des Lebens

Mit dem „Kapitalismus des Laissezfaire“ wurde „das individuelle Schicksal […] zum unkalkulierbaren Risiko und zwar massenhaft“. Moment einmal: Ist das Leben nicht eigentlich generell ein „unkalkulierbares Risiko“, und zwar nicht nur „massenhaft“, sondern letztlich für jeden? Die Unkalkulierbarkeit beginnt schon mit der Geburt: Über die eigene kann man nicht „kalkulierend“ entscheiden.

Die Kultur, in die man hineingeboren ist und in der man aufwächst, die politischen Verhältnisse, Familienumstände, Chancen, die sich eröffnen oder verschlossen sind – alles nur bedingt und letztlich garnicht „kalkulierbar“. Klar, es ist da auch von „sozialen Übeln“ zu reden und wie man denen begegnet – individuell und wie die Gesellschaft da aushelfen kann. Aber: Es kann keinen Allversicherungsstaat geben.

Wer alles planen will, muß letztlich scheitern. Das ist die Lehre vom Kollaps des realen Sozialismus. Man kann Not zwar einigermaßen wenden, aber eine „Freiheit von Not“ gibt es nicht, denn die Zufälligkeit des Lebens bleibt immer. Hat Wolfgang Engler ganz vergessen, was er einst gelernt hat? „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Karl Marx: „Der 18. Brumaire des Luis Bonaparte“, 1852) Für jene, denen sich bei Marx die Nackenhaare sträuben, sei alternativ dazu der treffende Satz zitiert, den Bill Clinton bekannt gemacht hat: „It‘s the economy, stupid!“

 

Was bietet Wolfgang Engler an? Man muß lange in seiner Broschüre suchen, um es zu finden: „Ende von Hartz IV“ (S. 133). Als Ersatz aber das Gleiche: „Wer Geld vom Staat kriegt, ist weniger gestresst“ (S. 186). Also keine „Hartz-Geschädigten“ (S. 133) mehr, sondern „bedingungsloses Grundeinkommen“? Sollen alle das werden, was die, die das fordern, bereits sind: Staatsangestellte, damit vom Wohlwollen der jeweiligen Regierer abhängig, Untertanen? Ganz will sich Wolfgang Engler wohl nicht festlegen. Was ich hier aus S. 133 und 186 zitiere, zitiert er selbst. Dann aber doch: „Am besten fangen wir jetzt schon damit an, packen die Verhältnisse an der Wurzel und schicken die bürgerliche Zwangsehe von Einkommen und Lohnarbeit zur Feier der »neuen Normalität«, auf die wir uns zubewegen, in den verdienten Ruhestand“, sagt der wohlversorgte Ruheständler.

Der rechte Kern

Immerhin, Wolfgang Engler bemerkt, bei Robert Habeck „pausiert das Denken offenkundig“. Er verweist auf „geistige Ausfallserscheinungen der privilegierten Stände“. Tatsächlich, die absolvieren „ihren Weg vom Eigenheim zur Universität mit geschlossenen Augen“, nehmen nicht wahr, wer mit harter Arbeit ihre kommode Existenz absichert.

Brav aber spricht bzw. schreibt er gegen „populistisch“, gegen „radikale Rechte“, gegen „rechtsaußen“, gegen den „rechten Kern“ und vor allem gegen „reaktionären Neoliberalismus“.

Er weiß: „Der konstruktive Kritiker lebt zuweilen gefährlich.“ Man muß ihm allerdings zugutehalten, daß Verbeugungen vor dem linken Geßlerhut bei ihm eher selten sind. Wer den nicht grüßt, muß mit einem Cancel-Culture-Shitstorm rechnen. Mir fiel auf, daß sich Wolfgang Engler gelegentlich am Prinzip der älteren japanischen Malerei orientiert, wie es Jürgen Kaube einmal in der FAZ beschrieb: „An Stellen, an denen klar würde, dass die Perspektive nicht beherrscht wird, setzt der Maler eine Wolke hin.“

Ein paar Proben davon gefällig? Bitte: „Verflüssigung der Privatverhältnisse schuf selbstgängige Individuen“, „Hechtsprung von der Metaphysik zur Postmoderne“, „von der neoliberalen Antipolitik zur technoiden Postpolitik“, „die Lasten des Umsteuerns wiegen auf den Ruderbänken schwerer als oben auf dem Ausguck“, „zur Scham von Minderheiten, falsch zu leben, gesellte sich die ausgreifende Furcht vor dem Leben selbst“. Schöne Wortwolken, aber was folgt daraus? Da mangelte es wohl des entschiedenen Rates eines Lektors: Diese Sprachgemälde sind als Kapitelüberschrift gut, aber darunter muß dann sehr fein ziseliert gezeichnet werden.

Meinungshoheit durchsetzen – mit Carl Schmitt?

Nur an einem Zitat, das er bringt, sei verdeutlicht, daß Wolfgang Engler hier nicht weit genug vordringt: „Denn »die Deutungshoheit, was gesellschaftlich mehrheitsfähig ist in Deutschland, sollten wir uns nicht nehmen lassen«“. Das Zitat im Zitat ist aus Alexander Carius u.a. (Hg.): Die offene Gesellschaft und ihre Freunde. Wolfgang Engler bringt dazu im Anschluß ein ziemlich belangloses Beispiel für eine „hoheitliche Meinung“ aus der gleichen Quelle. Das wäre doch aber zu analysieren. Das ist Stoff mindestens für eine eigene Broschüre: Da verkünden Leute ex cathedra nicht einfach nur, was sie als Meinung durchsetzen wollen, nein, sie wollen darüber bestimmen, was als mehrheitsFÄHIG gelten darf und was nicht, was überhaupt als Meinung zugelassen, was überhaupt gesagt oder geschrieben werden darf.

Sie wollen darüber vorab bestimmen, was gefragt werden darf und was nicht. Was wollen denn diese Leute tun, wenn Meinungen anheischig sind, Mehrheiten zu gewinnen, denen sie die MehrheitsFÄHIGKEIT absprechen? Wie ist Deutungshoheit zu versehen? Wie wird die selbstherrlich beanspruchte HOHEIT durchgesetzt? Wir erleben es bereits: Inzwischen randaliert und prügelt nicht nur der Schwarze Block bei Demonstrationen.

Häuserfassaden werden beschmiert, Lokale verwüstet und deren Angestellte bedroht, weil die Betreiber an Leute vermieten wollen, denen prinzipiell MehrheitsFÄHIGKEIT abgesprochen wird. Einfache Streifenpolizisten werden lebensgefährlich attackiert, wenn sie an besetzten Häusern vorbeigehen, Fahrzeuge werden reihenweise abgefackelt … Das sind aggressive Feinde der offenen Gesellschaft, vor denen der liberale Staat zu kapitulieren scheint. Dazu wäre viel zu sagen.

Fast gegen Schluß lese ich: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Das ist ein Carl-Schmitt-Zitat und es stimmt, aber: Lieber Wolfgang Engler, man kann Carl Schmidt nicht unkommentiert zitieren! Kennt er nicht Jan-Werner Müller „Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa“ (Darmstadt 2007; englische Originalausgabe New Haven 2003)? Wäre da nicht aufzuklären, daß die linken Besserwisser selbstgerecht einen permanenten Ausnahmezustand, und zwar unter ihrem Kommando, herbeiführen wollen?

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