Gesichtet

Die nur äußerlich Kritiklosen

Moderne Staaten halten sich an das Äußerliche, ihre Sache ist, Menschen an ihrem tatsächlichen Verhalten zu messen, nicht, ihnen in die Herzen und Gewissen zu gucken. Oder etwas nicht?

Im modernen Staat ist „Pragmatismus“ sowohl das Wesen des Rechts als auch das der öffentlichen Meinung. Beiden ist vollkommen egal, ob ich mit ihren Prinzipien einverstanden bin, d.h. ob ich auch innerlich mit ihnen übereinstimme oder nicht. Die Geltung von Recht und öffentlicher Meinung hängt nicht vom öffentlichen Bekenntnis – außer für den besonderen Fall des Staatsdienstes – zu ihnen ab.

Um zu gelten, reicht es vollkommen aus, dass man ihnen gemäß sozial wirksam handelt. Von „Gesetzen“ und „Verordnungen“  muss ich nicht überzeugt sein, sondern mich nur an sie halten, um zu zeigen, dass sie auch mir gelten. Ein Ingrediens jeglichen Geltens in der Öffentlichkeit ist das Vorbehalten von Kritik, d.h. Kritiklosigkeit in dem Sinne, dass mögliche Kritik nicht geäußert wird. Handelt man ohne zu murren z.B. im Sinne geltenden Rechts sowie konform der öffentlichen Meinung, handelt man im Ergebnis so, als ob man mit ihnen einverstanden wäre.

Der gute und anständige Bürger X

Ein konstruiertes Beispiel mit dem fiktiven Bürger X als Protagonisten gibt Aufschluss über das Wesen oben erwähnten Pragmatismus: X findet sich vor als Bürger der „Zivilgesellschaft“, einer Gesellschaft, die vom „Menschen“ angetan ist. Philanthropie, Humanitarismus, Altruismus, Solidarität gehören zu den Grundwerten dieser Gesellschaft. Die Rechtsprechung des dieser Gesellschaft zugeordneten Staates basiert ausdrücklich auf der Anerkennung von „Menschenrechten“. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Verfassungsartikel.

X aber glaubt nicht an die Menschenrechte und hält auch seine Mitbürger, die an sie glauben, für humanitaristisch verbildete Humanitätsdusler bzw. für im Menschheitswahn befangen. Im „Rechtsstaat“, den seine Mitbürger für eine Errungenschaft halten, sieht X ein notwendiges Übel, aus dem er gelegentlich schon mal seinen Nutzen gezogen hat. X ist weder seinen Mitbürgern noch „seinem“ Staat als Ungläubiger in Sachen Menschenrechte aufgefallen.

Er verhält sich immer und überall so wie seine übrigen Mitbürger. Der behavioristische Schluss ist: X ist ein guter und anständiger Bürger, der das Recht achtet. In sein Innerstes geguckt und moralisch betrachtet aber wäre X ein Heuchler und Opportunist, sogar ein Zyniker. Wohltätigerweise geht das nicht, so dass X eben nichts von alledem ist.

Das Gewissen der Bürger interessiert doch

Der Rechtsstaat würde zu weit gehen, zerstörte sich letztlich selbst, verlangte er eine Offenlegung dessen, was man so in seinem Herzen und Gewissen mit sich herumträgt. Das aber kann durchaus geschehen, besteht der Verdacht, „unter uns, den Bürgern“ gibt es „falsche Fuffziger“, Leute, denen man ihre innere Entfremdung von „unserer Gesellschaft“ nicht ansieht.

Die Menschen können zwar entgegen ihrer Liebe und Überzeugung, ihrer Wahrheit handeln, vom ihrer Liebe und Überzeugung entgegen Gesetzen aber lassen sie sich darum nicht überzeugen. Wie viele es sind, weiß keiner zu sagen – der Gedanke eines unsichtbaren, unauffälligen, zwar äußerlich kritiklosen, dabei aber alles andere als unkritischen Sandhaufens, bestehend aus lauter unverbundenen, genauso unerfahrbaren wie unerfassbaren Bürgern X, ist ein schlimmer Albdruck, nicht nur für totalitäre Regime.

Verderbnis eines Gemeinwesens

Der Wunsch, in Erfahrung zu bringen, wie der einzelne Bürger wirklich tickt in seinem Innersten, besteht durchaus. Besonders stark entwickelt ist er da, wo die Normalität von Rechtsstaat und Zivilgesellschaft durch praktische und faktische Übertretungen aufgehoben, der pragmatisch-bürgerliche Grundzug der öffentlichen Meinung verloren gegangen ist. „Der Dieb weiß sich in Gesellschaft seinesgleichen“, lautet ein spanisches Sprichwort, d.h. die Übertreter schließen von sich auf andere, sehen den Splitter im Auge des Nächsten ohne den Balken im eigenen zu gewärtigen.

Unter solchen Umständen ist das staatliche und öffentliche Interesse am Gewissen der einzelnen Bürger besonders groß, meistens auch nicht ohne Grund: Wer innerhalb eines Staates, an dessen Verfassung er nicht bzw. nicht mehr glaubt auf ebendiese einen Eid ableistet – z.B. den Beamteneid – wird darum nicht notwendig zum Verräter an seinem Gewissen, so er überhaupt ein Gewissen hat. Durch den falschen Eid wird der „Geist“ der Verfassung zuschanden, die Verfassung selbst damit verraten, dem verderbten Gemeinwesen mit Verderbnis begegnet, und zwar mit der eigenen.

Würde man den Eid nicht leisten unter Angabe von „Gewissensgründen“, man handelte weniger im Sinne seines Gewissens als aus einer, wenn auch letzten, Anerkennung der Heiligkeit der Verfassung, ähnlich wie ein Atheist durch seine ausdrückliche Apostasie der Religion eine letzte Ehre erteilt. Man sieht, ein Gewissensdilemma kann zu einem Korruptionsproblem werden, Korruption aber nicht im Sinne von Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit, sondern als Verderbnis eines Gemeinwesens. Ob einem solchen dann die Heiligkeit abzusprechen ist oder nicht, kann eine Gewissensfrage sein, muss es aber nicht.

(Bild: Pixabay)

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