„Die Unzulänglichen“ von Pierre Drieu La Rochelle neu erscheinen zu lassen, ist ein gewagtes Unterfangen. Denn was könnte ein Roman von 1939 heute noch zu sagen haben?
Als 1966 die deutsche Erstausgabe von „Gilles“ unter dem Titel Die Unzulänglichen erschien, da vernahmen die Wohlgesinnten den beißenden Rauch des Teufels in faschistischer Gestalt. In aus heutiger Sicht gemäßigtem Tonfalls fand sich in der Wochenzeitung DIE ZEIT eine Rezension von Hanns Grössel. Darin hieß es über Drieus Roman: „Sein Roman ist eine Charakterstudie: Jählings entbrennender Tatendurst und hochmütige Lebensverachtung, kritische Intelligenz und Verschwärmtheit liegen in Gilles gefährlich nahe nebeneinander und machen ihn in hohem Grade durch Extreme verführbar. Er ist der Menschentyp, der für Faschismus anfällig ist. Aus ‚Die Unzulänglichen’ lassen sich Erkenntnisse über ihn gewinnen.“
Welche Erkenntnisse das sein sollen, ist auch mehr als 50 Jahre später nicht zu ergründen. Zwar kommt der Faschismus als Randthema im Leben des Protagonisten Gilles vor, aber der Leser erfährt hier nichts, was auf den ersten Blick einen größeren Erkenntnisgewinn bedeuten würde. Das war 1966 nicht anders als heute. Dieses Missverständnis lässt Gössl dann auch zu dem falsch gerichteten Urteil kommen, Die Unzulänglichen sei „ein künstlerisch fehlgeschlagenes Buch“.
Leben zwischen Tod und Geld
Die künstlerische Frage ist bei einer Übersetzung im Letzten nicht zu klären. Statt einer lediglich um ein Vorwort ergänzten Neuauflage der Fassung von 1966 wäre eine Neuübersetzung wünschenswert gewesen. Denn die nicht immer gelungene Übersetzung verstellt durch die Erzeugung von Missverständnissen ab und zu den Blick auf das, was Drieu seinen Lesern sagen möchte. Hier zeigt sich ein fast schon Besessenheit zu nennender Mitteilungsdrang des Autors, der keinen Satz auslässt, um seiner eigenen Verlorenheit zwischen Tod und Geld Luft zu machen.
Beides waren Fixsterne im Leben Drieus, weshalb er Die Unzulänglichen zuerst auch „Der Tod und das Geld“ nennen wollte. Dies ist wahrscheinlich der einzige autobiographische Zusammenhang, der für einen verstehenden Zugang zur Handlung wichtig ist. Diese beginnt mit dem Tod oder genauer mit dem Schatten, den dieser durch den ersten Teil des zweiten Dreißigjährigen Krieges auf das Leben von Gilles wirft. Als Frontsoldat auf Urlaub in Paris will er das Leben in vollen Zügen genießen. Dazu fehlt es ihm immer wieder an dem nötigen Geld, bis er sich in eine Heirat ohne Liebe zur jüdischen Bankierstochter Myriam rettet. Finanziell versorgt ist er dem Tod des Schlachtfelds entronnen und lernt schnell die tödliche Langeweile fürchten, die durch die Dekadenz verbreitet wird.
Dekadenz und Politik
Die Dekadenz wird für Gilles lebensbestimmend, wie sie es für Drieu ebenfalls war. Sie führt ihn in die Politik, in der er durch die Schaffung eines neuen Menschen die Dekadenz zu überwinden hofft. Was Gilles findet, sind Intrigen, die er in Alkohol ertränkt und mit verschiedenen anderen Drogen betäubt. Gilles wäre wahrscheinlich der glücklichste Mensch der Welt gewesen, hätte ihn im Schützengraben eine Kugel tödlich getroffen. Stattdessen muss er sich durch das Leben hetzen lassen, das ihm noch nicht einmal Frauen erträglich machen können.
Trotz des Geldes, das er von Myriam erhält, trotz seiner häufig erfolgreichen Intrigen und trotz seiner vielen Affären weiß er, dass er sich im Leben nicht bewiesen hat, dass er am Leben gescheitert ist. Das wird beispielsweise in einem Gespräch deutlich, das Gilles mit einem ehemaligen Kommilitonen in Paris führt: „Der Mensch existiert nur im Kampf, der Mensch kann nur leben, wenn er das Leben aufs Spiel setzt. Kein Gedanke, kein Gefühl ist real, wenn es sich nicht durch den Einsatz des Lebens bewährt hat.“
Scheitern im Existentiellen
Das Scheitern Gilles ist damit ein existentielles Scheitern, das der Leser stellenweise als äußerst bedrückend empfindet. Gerade im dritten Teil des Buches, der mit „Die Apokalypse“ überschrieben ist, erscheint es zunächst so, als könnte Gilles durch eine neue Liebe wieder Lust auf das Leben gewinnen. Aber das ist ein Trugschluss. Im Epilog zeigt sich, dass für ihn die wahre Rettung nur durch Krieg und Aktion möglich ist.
Für Drieu bestand diese Rettung im Selbstmord, der die letzte Verführung für ihn war. Wenn sein gewaltiger, aber keineswegs großer Roman heute noch etwas zu sagen hat, dann ist es das Aufzeigen der Verführungskraft der Extreme. Solche Extreme sind heute auf den ersten Blick nicht leicht zu finden. Wer Stammkunde bei Primark ist oder den letzten Schnäppchen des ganzjährigen „Sale“ hinterherrennt, für den drängt es sich nicht gerade auf, dass es Extreme geben könnte, an denen das eigene Leben wachsen oder eben auch scheitern kann. Dabei zeigt sich auf den zweiten Blick, dass dieses Leben selbst ein Extrem ist, das den verführen will, der es ernst nimmt. Drieu hat das in allen Facetten vorgelebt. Er war ein Dandy, weil er dem Leben als Extrem gerecht werden wollte. In seinem Protagonisten Gilles lässt sich diese Lebenshaltung zumindest erahnen.
Pierre Drieu La Rochelle (2016): Die Unzulänglichen. Jungeuropa Verlag. Dresden. 560 Seiten. 24 Euro.
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