Dieses Werk ist eine um mehr als das Doppelte erweiterte Neuauflage eines vernachlässigten Buches, das bereits 1994 unter demselben Haupttitel erschienen ist.
Obwohl es, wie der Autor in seinem Vorwort bemerkt, damals an viele maßgebende Politiker persönlich verschickt wurde und scheinbar auf diesem Wege auch eine Wirkung hinterließ, gab es damals keine einzige Besprechung in einem größeren Blatt – trotz der damals schon hohen Aktualität des Themas. Allein diese Tatsache gibt über den Zustand unserer Publizistik sehr zu denken!
Die Position von Johannes Heinrichs und sein Gedankengang sind nämlich nicht einfach in das Parteienspektrum nach dem Links-Rechts-Schema einzuordnen. Wer darin befangen ist, wird die wertkonservative, nämlich kulturbewusste These des sonst ausgesprochen strukturrevolutionären Autors „rechts“ einordnen wollen, die da lautet: Multikulturelle Gesellschaft im Sinne einer völligen Parität verschiedener Kulturen unter Aufgabe von einheitlichen Sprachgebieten ist keine wünschenswerte Form menschlichen Miteinanderlebens.
Multikulti ohne Unterscheidung von Gastgeber und Gast ist Unkultur
Multikultur ohne die Unterscheidung von gastgebender Kultur und Gastkultur wäre in Kürze eine Unkultur. Ein Multikulti im Sinne einer „Heimat Babylon“, wie sie von Daniel Cohn-Bendit und den Grünen seiner Generation mehrheitlich gewollt wurde, lehnt Heinrichs auf nationaler Ebene entschieden ab. Es geht dabei um die Grundfrage, ob die europäischen Nationen Gebilde von gestern sind oder eine Zukunft als die auf lange Sicht wesentlichen Kultureinheiten haben.
Inzwischen müssen selbst die „linken“ Parteien einsehen, dass hinter dem Aufkommen der AfD das berechtigte Anliegen nationaler Identität und kultureller Heimat steht – „dass Deutschland deutsch bleibt“ und dass die Vernachlässigung dieses grundlegenden Bedürfnisses der deutschen Bevölkerung gerade den Rechten in die Hände arbeitet. Heinrichs hatte diese Dialektik 1994 vorausgesagt.
Kulturelle Identität braucht keinen Nationalismus
Wenn etwa eine Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz verlauten ließ „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“, ist das für eine solche Amtsträgerin skandalös. Man kann ihr und ihresgleichen zur Nachhilfe besser Heinrichs` Passagen „Zur Deutung deutscher Identität“ (in Teil I sowie im Offenen Brief an Bassam Tibi) empfehlen.
Ein vertieftes, aufgeklärtes Bewusstsein kultureller Identität hat mit Nationalismus nichts gemeinsam. Es ist im Gegenteil Voraussetzung echter Willkommenskultur, die über die bloß ökonomische Nutzung von Zuwanderern hinausgeht. Strukturelle Voraussetzung aber für kulturelle, nicht bloß wirtschaftliche Integration ist die Unterscheidung der jeweils gastgebenden Primärkultur von den (in einem nicht wertenden Sinne) sekundären Gastkulturen, welche die Zuwanderer mitbringen.
Diese Unterscheidung ist das strukturell Neue in Heinrichs` Buch, das von all denen, die bloß in Wirtschafts- und politischen Kategorien denken, vernachlässigt wurde und wird. Das Bewusstsein um die Rolle der gastgebenden Primärkultur bedeutet dabei keineswegs ein nationalistisches Überlegenheitsgefühl, sondern schlicht den unerlässlichen Gemeinschaftsgeist, der sich in Sitten und Gebräuchen äußert, zuvörderst in der Verwendung einer gemeinsamen Sprache.
Von Einwanderern ist daher auf Dauer eine kulturelle Integration und eine volle Anerkennung der Primärkultur zu verlangen – was jedoch nicht bedeutet, dass sie ihre mitgebrachten Kulturen verleugnen müssten. Diese genießen als Sekundärkulturen Gastrecht in der gastgebenden Primärkultur, auch wenn die Einzelnen als solche nicht bloß Gäste bleiben müssen.
Solche sich aus der Vernunft ergebenden Grundregeln werden sowohl von linken Multikulti-Ideologen, wie von rechten Nationalisten missachtet, aber auch von Mitte-Politikern nicht klar ausgesprochen. Die entsprechende Unklarheit besteht bei den meisten Vertretern der Betroffenen. Gemeint sind nicht allein die (nach Bassam Tibi) doppelzüngigen Verbandsvertreter der türkischen Einwanderer, sondern auch Schriftsteller wie etwa Zafer Senocak, die mit ihrer scheinbar so friedlichen Forderung einer Gleichstellung der Kulturen im deutschen Sprachgebiet nicht weniger als eine kulturelle Landnahme betreiben. Dass mit solchen Unklarheiten kein befriedigendes Miteinander zu erreichen ist, liegt auf der Hand.
Europa ohne Identität?
Das Buch ist gegenüber der Erstausgabe von 1994 um zwei Essays und ein Resümee erweitert. Der Aufsatz „Kulturelle Solidarität – der unerkannte Kern des Migrationsproblems“ stellt die ganze, scheinbar nur wertkonservative Frage in den strukturrevolutionären Zusammenhang von Heinrichs` innovativer Reflexions-Systemtheorie, die inzwischen ausführlich in seinem Buch Revolution der Demokratie (2003/2014) dargelegt wurde.
Auch dieser heute so dringend benötigte Entwurf einer viergliedrigen Wertstufendemokratie mit bereichsspezifischen Wahlen (gleich Sach-Abstimmungen) wird von den tonangebenden Groko-Medien in sträflicher Weise niedergehalten. In diesem Modell wird die kulturelle Ebene in genauen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und politischen sowie der Grundwerte-Ebene gestellt und ein für unzählige Einzelfragen der Demokratie dringend benötigter Lösungsvorschlag entwickelt.
Der dritte Teil des neuen Buches besteht aus einem kritischen Offenen Brief an Bassam Tibi anlässlich der aktualisierten Neuauflage von Tibis Buch Europa ohne Identität (2016), mit dessen Erstausgabe dieser im Jahr 1998 den Begriff der Leitkultur geprägt hat, jedoch gerade nicht im Sinne einer nationalen Kultur (für die der Begriff „Leitkultur“ mit Anklang an „Leitwährung“ auch ganz unpassend ist), sondern bloß im Sinne einer gesamteuropäischen politischen Kultur. Bei aller berechtigten Forderung nach einem aufgeklärten, demokratiefähigen Islam geht der „Islamologe“ Tibi (ebenso wie Habermas) am Problem der nationalen Kulturen vorbei.
Teilhabe an mehr als einer Kultur
Den vierten Teil bildet ein für das volle Verständnis nochmals hilfreiches Resümee, in dem der Autor sich u.a. sympathisierend mit Seyran Ate?` „Der Multikulti-Irrtum“ auseinandersetzt. Wenn diese aufgeklärte Muslimin Multikulti für gescheitert erklärt, vertritt sie eine „transkulturelle Gesellschaft“. Nach Heinrichs ist das Transkulturelle zwar eine Lösung für Einzelne, die gleichermaßen an zwei oder gar mehr Kulturen teilhaben. Er bietet jedoch keine strukturelle Lösung für die nationale Gemeinschaft – was derzeit durch den Zuzug vieler nicht-türkischer Muslime nach Deutschland noch unterstrichen wird.
Auch wenn man von diesem Buch nicht die Lösung der derzeitigen Grenzpolitik und des parteipolitischen Hickhacks um quantitative „Obergrenzen“ erwarten darf, kenne ich kein Buch, welches das letztlich entscheidende qualitative, kulturelle Verständnis der Nationen in einem wirtschaftlich und politisch stärker zusammenwachsenden Europa so umfassend und tief auf einleuchtenden systemtheoretischen Grundlagen erhellt.
Johannes Heinrichs: Gastfreundschaft der Kulturen. Der Weg zwischen Multikulti und neuem Nationalismus, ibidem Verlag, Stuttgart 2017, 208 Seiten.
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