Rezension

Wissenschaftliche Ethik?

Rolf Peter Sieferle beschreibt in seinem Buch „Das Migrationsproblem“ den Konflikt zwischen normativer Ethik und empirischer Moral. Er verdeutlicht die Problematik anhand eines Beispiels von Adam Smith: „Angenommen, wir erfahren, dass uns morgen ein Finger abgeschnitten werden soll. Gleichzeitig erfahren wir, dass morgen eine Million Chinesen umkommen werden. Welche Nachricht berührt uns stärker?“

Es ist eindeutig, was in diesem Beispiel das schlimmere Ereignis ist. Trotzdem können wir uns nicht von unserer subjektiven Sicht auf die Welt lösen. Dies ist ein Hinweis, dass sich Moralphilosophien mit einem objektiven Anspruch in der Wirklichkeit nicht umsetzen lassen.

In diesem Text werde ich versuchen eine neue Perspektive auf die Ethik aufzuzeigen, indem ich mich auf unseren wissenschaftlichen Anspruch berufe und gängige philosophische Betrachtungsweisen kritisiere. Im Gegensatz zur Philosophie geht es in der Wissenschaft darum, die Welt systematisch durch reproduzierbare Messungen und Beobachtungen zu erforschen.

Mensch und Moral

Edward Wilson beschreibt, dass die Trennlinie der Weltanschauungen in unserer Gesellschaft nicht wie häufig angenommen zwischen religiösen und säkularen Positionen verläuft, sondern zwischen denjenigen, die glauben, moralische Werte wären unabhängig vom Menschen und denen, die sie ausschließlich auf den Menschen zurückführen.

Wenn wir die Naturwissenschaften ernst nehmen, dann ist nur die zweite Option sinnvoll. Aus der Position des Universums hat ein Mensch keinen Wert. Es handelt sich bloß um eine Ansammlung von Atomen, die sich auf einem Planeten befinden. Wenn wir uns die sprachliche Eigenschaft des Wortes „Wert“ anschauen, wird deutlich, dass ein Wert einem Objekt immer nur von einer oder mehreren Personen zugeschrieben werden kann. Es ist also der Mensch, für den andere Menschen einen Wert darstellen. Aus diesem Grund sollten wir uns den Menschen anschauen und welche Eigenschaften ihn dazu bringen, Dingen einen ethischen Wert zuzuweisen.

Probleme der Philosophie

Aus dieser Perspektive erscheint der Versuch mancher Philosophen, eine Letztbegründung für die Ethik zu finden, als naiv. Bei dem Begriff der Letztbegründung scheint es sich um eine sprachliche Täuschung zu handeln, die dadurch entsteht, dass wir das Wort formulieren können. In der Wirklichkeit braucht aber jede Begründung wiederum eine weitere Begründung. Ähnlich wie in der Sprache jede Definition wieder auf einer anderen Definition beruht.

Oft wird in der Philosophie bezüglich der Ethik mit Humes Gesetz argumentiert, dass nämlich logisch aus einem „Sein“ kein „Sollen“ abgeleitet werden kann. Ein Beispiel wäre, dass aus einem Recht des Stärkeren in der Natur (sein) nicht darauf geschlossen werden kann, dass dies moralisch richtig ist (sollen). Dies wird dazu verwendet zu argumentieren, dass die Wissenschaft nur das „Sein“ beschreiben kann, was dazu führt, dass Überlegungen bezüglich des „Sollens“ zwangsläufig in den Bereich der Philosophie fallen.

Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Vorstellung des „Sollens“ ihren Ursprung in der menschlichen Biologie hat, dann kann der Ursprung des „Sollens“ wissenschaftlich untersucht werden. Der Mensch ist oft unentschlossen, was gut oder schlecht ist, weil er konkurrierende Konzepte verinnerlicht hat. Ihm kann somit durch Wissen über die Ursprünge seiner Vorstellungen dabei geholfen werden, eine Entscheidung zu treffen. Das „Sollen“ lässt sich daher sowieso nur schwer generalisieren, weil immer die spezifischen Ursachen eine Rolle spielen. Damit braucht Ethik eine spezifische Analyse des gesellschaftlichen Kontexts.

Eine neue Perspektive

Damit wird die Ethik von einem objektiven, abstrakten Konstrukt zu einer an das Subjekt gebundenen Eigenschaft. Dadurch werden wir uns bewusst, dass wenn ethische Begriffe verwenden werden, sich diese immer auf den gesellschaftlichen Kulturkreis beziehen, aus dem sie stammen.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Dass Ethik subjektiv ist, macht uns auch nicht amoralisch, denn wir akzeptieren, dass wir unserem eigenen Gewissen nicht entkommen können.  Ethik ist also einerseits relativ, andererseits für uns selbst bindend. Auch wenn ein Individuum zu anderen Schlüssen kommen kann als die umgebende Gesellschaft, so gibt es doch weiterhin eine gemeinsame Basis moralischer Werte. Somit lassen sich die durch unsere Sozialisation eingeprägten moralischen Wertevorstellungen nicht beliebig umformen.

Die moralische Bewertung einer Handlung hängt auch immer von den daraus resultierenden Folgen ab. Diese sind aber so vielfältig und komplex, dass sie sich nur sehr schwer einordnen lassen. Damit lässt sich wiederum jede Handlung moralisch anzweifeln, weshalb für eine Gesellschaft verinnerlichte Werte und Gewohnheiten eine große Rolle spielen. Durch diesen Mechanismus wird auf Erfahrungen der Vergangenheit zurückgegriffen. Diese lassen sich aber wiederum wissenschaftlich analysieren und einordnen.

Ethik und Biologie

Wir dürfen nicht länger versuchen ethische Probleme rein theoretisch auf einem abstrakten Reißbrett zu lösen.  Sie hängen immer von den speziellen Umständen ab und diese gilt es systematisch zu analysieren.

Es braucht somit eine Wissenschaft der Ethik, die auf Erkenntnisse aus der Moralpsychologie, Anthropologie und der Soziologie der Moral zurückgreift. Diese muss durch eine konkrete sozialwissenschaftliche und historische Analyse der Moral in der betroffenen Gesellschaft ergänzt werden. Das dadurch gewonnene Wissen kann zur Lösung moralischer Konflikte beitragen.

Dabei muss aber festgestellt werden, dass insbesondere die Psychologie und die Sozialwissenschaften Forschungsfelder sind, die erhebliche Probleme haben, ihren wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Immer wieder werden Statistiken falsch ausgewertet oder Experimente lassen sich nicht reproduzieren.

Trotzdem gibt es bereits unmittelbare Folgen aus dem Perspektivwechsel. Wenn Ethik von den biologischen Grundvoraussetzungen abhängt und sich aus historisch in einer Gesellschaft gewachsenen Konzepten entwickelt, dann erscheint die Idee einer multikulturellen Gesellschaft höchst problematisch. Da sich die für die Begründung der Ethik verwendeten Wertesysteme fundamental unterscheiden, kommt es zu einer Konkurrenzsituation. Es entsteht ein großes Konfliktpotential, das auf moralischer Ebene nur durch einen langwierigen Prozess der Vereinheitlichung gelöst werden kann.

Bildhintergrund: Regina Sieferle (privat)CC-BY-SA 4.0

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