Gesichtet

Preußische Theologie

Nahezu jeder deutsche Patriot kennt den berühmten Marsch, welcher den zutreffenden und sehr verehrlichen und ehrenfesten Namen Preußens Gloria, in Deutsch Preußens Ruhm, trägt. Nahezu jeder Patriot verehrt diesen Marsch, welcher in Folge des deutsch-französischen Krieges im Jahre 1871 uraufgeführt worden ist. Aber wie schaut es mit der Preußischen Theologie zu der Zeit aus, also mit Preußens Theologia?

Ist es überhaupt empfehlenswert für christliche Patrioten, die Texte, Reden und vielleicht sogar Predigten z.B. der deutschen Kulturprotestanten zu studieren? Ist es lohnenswert, Adolf von Harnack, Albert Ritschl und Ernst Troeltsch oder Reinhold Seeberg und Arthur Bonus zu lesen und welche Erkenntnisse könnte man aus den Schriften dieser Theologen heute ziehen? Diese Fragen versucht dieser Kurzessay zumindest fragmentarisch zu beantworten.

Es ist wichtig zu betonen, dass wir von der Deutschen Kaiserzeit sprechen, gemeint ist hier also der Zeitabschnitt von 1871 bis 1918. Vor allem jedoch reden wir von der Jahrhundertwende, denn genau zu diesem Zeitpunkt entstand das Hauptwerk oder besser gesagt eines der Hauptwerke des Kulturprotestantismus, welches eigentlich eine Niederschrift von 16 Vorlesungen darstellt, nämlich Adolf von Harnacks Wesen des Christentums. Der Bezug zur gleichnamigen und früheren Schrift Feuerbachs ist wohl als vorsätzlich zu verstehen. Der Kulturprotestantismus bzw. die liberale Theologie war eine durchaus dominante Strömung innerhalb der Theologie der Kaiserzeit.

Im Theologiestudium geht meistenteils die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Kulturprotestantismus unter, den meisten Professoren genügt eine Art Sammlung und Ankettung der Begriffe, wie Kultur, Bildung, und den Stichwortbegriff, Religion, welcher vor allem durch Schleiermachers Frühschrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ seine damalige Relevanz innerhalb des Kontextes bekam, zu nennen, um das Thema vollends genügend zu erschöpfen.

Dabei spielt der Kulturprotestantismus der Kaiserzeit wirkungsgeschichtlich eine hervorzuhebende Rolle für die gesamte Geschichte der deutschsprachigen Theologie des 20. Jahrhunderts, denn schließlich war es kein geringerer Theologe als Karl Barth, der diese Strömung der Theologie heftig angriff. Ich würde sogar so weit gehen, dass zumindest der Anstoß für die spezifische Theologie Karl Barths, wenn nicht sogar das gesamte Werk, gegen die sogenannte liberale Theologie bzw. gegen den Kulturprotestantismus entworfen worden ist.

Sein Kollege und Freund Paul Tillich wiederum sah ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einen starken Bezug zum Kulturprotestantismus. Rudolf Bultmann, der große Vater der neueren und christlichen Hermeneutik, und zumindest Brieffreund Heideggers, einst ein Schüler des Kulturprotestantismus, wechselte zur Dialektischen Theologie. Dennoch finden sich bei ihm auch Elemente des Kulturprotestantismus wieder, wie z.B. die Entmythologisierung des Neuen Testaments etc. … Emanuel Hirsch wiederum schrieb eine Fortführung der liberalen Theologie, bzw. des Kulturprotestantismus, sowohl seine Übersetzung von Kierkegaard, als auch sein „Leitfaden zur christlichen Lehre“ finden heute noch starken Anklang.

Beide Begriffe, also sowohl Kulturprotestantismus als auch liberale Theologie, sind Fremdzuschreibungen. Der berühmteste und wichtigste Theologe dieser Strömung war der besagte Adolf von Harnack, ein durchaus enger Bekannter des Kaisers und ein führender Wissenschaftler seiner Zeit, welcher sogar als Ratgeber in wissenschaftspolitischen Fragen dem Kaiser zur Seite stand und vom Kaiser 1914 geadelt worden ist. Theologie und Religion sind hier sowohl chronologisch als auch personell bei Weitem nicht privatisiert, sondern genau, wie die Politik als eine Sache der Öffentlichkeit zu begreifen. Wir können also davon ausgehen, dass die Erkenntnisse, Sichtweisen, Interpretationen und Darstellungen den Kaiser in irgendeiner Art und Weise geprägt haben (könnten).

Doch wann fing diese Verbundenheit zwischen Theologie und Politik an? Manch einer würde die „Staatstreue“ des generellen Protestantismus schon bei Luthers Zwei-Regimente-Lehre  oder bei den Anglikanern, sofern man die Anglikaner zu den Protestanten zählt, einordnen und man muss demjenigen wohl auch in gewisser Hinsicht Recht geben. Dennoch war die preußische Verbundenheit eine tiefere, welche sich höchstwahrscheinlich, denn eindeutig kann man dies nicht sagen, aus dem Pietismus speiste, welche mehr als Kompromiss und weniger als Synthese von Luthertum und Calvinismus galt, nachdem Johann Sigismund den Calvinismus zur preußischen Religion adeln wollte.

Der Pietismus, glaubt man Christopher Clark, war vor allem bei den Feldpredigern stark repräsentiert, welche eine wichtige Funktion innerhalb der Vermittlung der pietistischen Wertvorstellung gespielt hätten oder haben sollen. Aber nicht nur horizontal verbreitete sich der Pietismus, sondern auch vertikal stieg dieser rasch in die höchsten Ränge auf. Dieser so Clark folgend, hatte sogar großen Einfluss auf die Etablierung der Aufklärung innengehabt. Er fundierte den Boden für die Aufklärung, welche dann vor allem in den jungen Jahren Friedrich den Großen stark prägte, dessen Freundschaft z.B. zu Voltaire in den jungen Jahren des „Sohnes des Soldatenkönigs“ allbekannt ist.

Friedrich der Große stiftete auch den Orden des Pour le Mérite. Bekannte Träger von diesem war z.B. derjenige Theologe, welcher uns in diesem Essay noch relativ ausführlich beschäftigen wird, nämlich der besagte Adolf von Harnack. Weitere berühmte Träger waren z.B. Ernst Jünger und Erwin Rommel. Der Orden galt generell als höchste Auszeichnung Preußens, welcher jedoch sowohl einen zivilen Verdienst (Pour le Mérite – heißt auf Deutsch für den Verdienst) als auch einen militärischen Verdienst auszeichnete.

Adolf von Harnacks Theologie ist nolens volens eine Theologie des Kompromisses. Die Säkularisierung war schon zu dieser Zeit stark fortgeschritten, der Keim des Materialismus und der daraufhin entstandene Materialismusstreit haben ihre Konsequenzen gehabt und waren nicht mehr zurückzudrehen. Zwar haben die Materialisten, wie Vogt, Moleschott und Büchner nicht gewonnen, deren Argumente blieben jedoch in der Diskussion und der Modernisierungsdrang war nicht mehr aufzuhalten.

Dies war aber bei Weitem nicht die einzige und direkte Konkurrenz der klassischen Theologie, die Religionswissenschaft bzw. Religionsgeschichte waren auf der Tagesordnung und etabliert. Man suchte vor allem nach Analogien in den Religionen, benutzte christliche Begriffe und Motive als tertium comperationes usw., doch war die Religionsgeschichte eine direkte Konkurrenz auch zum besagten Kulturprotestantismus? Troeltsch kam aus der Religionsgeschichtlichen Schule und Harnack war auch vor allem Kirchenhistoriker, oder mit anderen Worten der Kulturprotestantismus suchte ein Mittel, um eine Bedeutung und Relevanz zu besitzen und diese eben nicht nur im pastoralen Sinne, sondern, um sich generell als Wissenschaft zu behaupten und dies mit den Mitteln des aufkommenden Historismus.

Adolf von Harnack war politisch ein kaisertreuer Liberaler, er war nicht wie einer seiner Schüler, nämlich Arthur Bonus im Sinne einer „Germanisierung des Christentums“ einzuordnen. Die Theologie als Kompromiss zu verstehen, zeigt sich bei Harnack auch in seiner Sprache auf, selten werden absolute Aussagen getroffen, manchmal grenzt die Sprache Harnacks jedoch sogar an Widersprüchlichkeit. Die Wunder im Neuen Testament werden erklärt und nur am Rande und meistenteils nur holistisch gedeutet:

„Die Wunderfrage ist etwas relativ Gleichgültiges gegenüber allen anderen, was in den Evangelien steht. Nicht um Mirakel handelt es sich, sondern um die entscheidende Frage, ob wir hilflos eingespannt sind in einer unerbittlichen Notwendigkeit, oder ob es einen Gott gibt, der im Regimente sitzt und dessen naturbezwingende Kraft erbeten und erlebt werden kann.“

Es wird also dezidiert versucht das Christentum modern zu deuten, dies sieht man vor allem im starken Einbezug der historisch-kritischen Exegese, so soll das Evangelium des Johannes nicht wirklich als Quelle zu verstehen sein. Das starke Festhalten an der historisch-kritischen Exegese lässt sich aber auch als Fortführung der Reformation, zumindest in den Augen Harnacks, verstehen. Es ist einer der wichtigen Exklusivpartikel, nämlich das sola scriptura oder mit den Worten von Walter von Loewenich: „Harnacks Rückgriff auf das „ursprüngliche Evangelium“ setzt also eine reformatorische Tendenz fort“.

Teils gelingt dies, da die Frage nach der heutigen Bedeutung innerhalb der Zeit stets eine Frage ist, die man nie vergessen sollte, teils gelingt dies aber eben nicht, wenn gerade in den letzten Vorlesungen die Katholische Kirche anfangs gelobt wird, auf die complexio oppositorum eigegangen wird, auf welche auch Carl Schmitt später im Jahre 1923 (Erstauflage 1923 in Hellerau), aber im Gegensatz zu Harnack positiv eingegangen ist, um dann mit einem schlichten Satz Jesu, die gesamte Argumentation herumzudrehen.

So hätte laut Harnack die Römisch-Katholische Kirche ein irdisches Reich begründet, was im Gegensatz zu Christi folgender Aussage stehe: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Der Papst soll laut Harnack ein irdisches Reich und kein geistiges Reich aufgebaut haben. Problematisch ist diese Aussage sehr. Denn die communis opinio ist eigentlich eine andere, nämlich das sogenannte schon und noch nicht des Kommens des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist nämlich schon angebrochen.

Es ist vor allem ein starkes Spannungsfeld, welches in der Theologie Harnacks zu beobachten ist. Auf der einen Seite will Harnack ad fontes, nicht nur zur Schrift, sondern zur tatsächlichen Lebenswelt Christi, der Husserlische Terminus, ist hier bewusst gewählt, auf der anderen Seite ist diese Welt nur zum Teilen rekonstruierbar und vor allem nur zum Teil anwendbar. Dies ist auch der Grund seiner Ablehnung der kirchlichen Christologie. Laut Harnack ist dies ein Dogma, aber im negativen Sinne und kein echtes bzw. lebendiges Kerygma mehr oder mit anderen Worten die Institutionalisierung der Katholische Kirche hätte die Kritik Christi an den Schriftgelehrten eben nicht angewandt, vielmehr sei die Katholische Kirche selbst zu den Schriftgelehrten geworden oder in den Worten Harnacks:

„Jene [Verkündigung], ob sie schon in einem stillen Gegensatz zu den Priestern und Schriftgelehrten gestanden hat, ist doch nicht zu dem entscheidenden Zeichen, dem widersprochen wurde, geworden.“

Was Christus uns in seinen Predigten und Gleichnissen sagen wollte, können wir in Gänze jedoch tatsächlich (noch) nicht verstehen, eine Befreiung des angeblich wahren Kerygmas grenzt schon an gnostische Motive. Dennoch stellt gerade Harnacks Theologie trotz ihrer eindeutigen Widersprüchlichkeit einen Versuch dar ein Wesen des Christentums im Hier und im Jetzt zu deuten, die tatsächliche Umsetzung krankt jedoch an der Formlosigkeit. Carl Schmitt wurde nicht umsonst oben als Beispiel angeführt und das nicht nur aufgrund der complexio oppositorum.

Carl Schmitt formuliert schon im Jahre 1923 im Werk Römischer Katholizismus und politische Form: „Von der politischen Form des Katholizismus betrachtet, liegt das Wesen der römisch-katholischen complexio oppositorum in einer spezifisch formalen Überlegenheit über die Materie des menschlichen Lebens, wie sie bisher kein Imperium gekannt hat.“

Patrioten müssen sich bei dem Studium des Kulturprotestantismus eins bewusst sein, das Nacheifern zu einem angeblich echten Kerygma lädt geradezu formlos ein, den aktuellen politischen Zeitgeist oder Begebenheiten zu folgen, denn diese theologische Formlosigkeit muss mit einer Deutung der aktuellen Welt gefüllt werden. Selbstverständlich ist dies nicht als Affront gegen die Kaiserzeit zu verstehen. Dem Kulturprotestantismus mangelt es aber an Form und dieser dreht sich somit, wie ein Fähnchen im Wind nach den politischen Begebenheiten.

Das angeblich echte Kerygma Christi kann schnell zum Ideal der Wokeness pervetiert werden, bei welcher weder Tradition noch Schrift eine Rolle spielen. Gepaart mit einer völlig übertriebenen Betonung auf die historisch-kritische Exegese, welche man auch als Reduktion auf den Buchstaben verstehen könnte, löste sich ein wichtiger Teil innerhalb der Theologie, nämlich das Beharren auf die Dogmatik und die damit zusammenhängende traditio.

Wirkungsgeschichtlich sind alle genannten Autoren höchst interessant, aber ein Auflösungsstreben der tatsächlichen Dogmatik führt zu zwei Punkten, nämlich:

  1. Es führt zu einer Umwandlung der wichtigsten theologischen Motive und Dogmen zum Untersuchungsgegenstand einer Methodik, nämlich der historisch-kritischen Exegese, welche Gott nicht zwingend als causa prima voraussetzt und
  2. Dadurch, dass wichtige theologische Motive wegfallen und nach einem formlosen Kerygma gesucht wird, entsteht, wie schon gesagt, eine große Leerstelle, welche mit dem Zeitgeist gefüllt wird.

Dennoch muss man festhalten, dass der Kulturprotestantismus den Begriff der Kultur, der Bildung und der Künste stark vertreten hat, und somit eindeutig auch starke patriotische Züge innehatte. Allein schon bezüglich der Wirkungsgeschichte lohnt sich der Einblick in die prägende Theologie des Kaiserreichs.

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