Rezension

Ton der Tempel: Über den Dichter Rolf Schilling

„Es gibt ganze Epochen, in denen zu gefallen beschämend ist“. Sollte jemals jemand, und sei es spaßeshalber, eine Verbindung herstellen zwischen diesem Verdikt des kolumbianischen Aphoristikers Nicolás Gómez Dávila und dem, was der Technokrat „aurea aetas“, der Ästhet „Interregnum“ und der Diplomat „Gegenwart“ nennt, so wäre Rolf Schilling fein raus.

Und das nicht etwa, weil sein Schaffen keinen Gefallen erregte, sondern weil den wenigsten seiner durchaus vorhandenen Fürsprecher das Odium der Zeitgenossenschaft anhaftet: Arno Breker, seinerseits von Aristide Maillol als „deutscher Michelangelo“, von Salvador Dali als „Prophet der Göttin Schönheit“ gepriesen, adelte Schilling als „Meister des Wortes“, Leni Riefenstahl nannte ihn „begnadet“ und Ernst Jünger lobte die „mythisch-heraldische Haltung“ des Thüringer Dichters, von dessen Werken keines je in der DDR verlegt wurde, wiewohl ein drolliger Vermerk in den Akten des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit ihm ohnehin Eignung und Neigung zu systemzersetzender Breitenwirkung abspricht: „Es werden Worte gebraucht, die kein normaler Mensch versteht“.

Was und Wie?

Wer hier nach konkreten Zeitbezügen späht, wird enttäuscht. Wer Literatur eher als Ausdrucks- denn als Kunstform begreift, ebenfalls. Die Vokabel „Kunstform“ würde Schilling indes wohl als Pleonasmus rubrizieren. Zumindest stößt man im siebten seiner 147 Aphorismen zum Wesen der Dichtung – versammelt im Essayband Schwarzer Apollon – auf die griffige Losung „Kunst ist Form“. Träume könne jeder haben, Visionen auch. Der Rang des Dichters bestimme sich allein durch die Mittel, über die er gebiete: „Die ‚heilige Schicklichkeit‘, von der Hölderlin spricht, bedeutet nicht, daß dem Dichter irgendein Wort oder Thema verboten wäre. Der Dichter darf alles sagen. Einzige Bedingung dafür ist, daß er es kann“.

„Das Was bedenke, mehr Bedenke Wie“, rät Goethes Homunculus und Gestalt, lehrt Emil Staiger, sei höchster Gehalt. Nicht die Freiheit von, sondern die Freiheit in der Form begreift Schilling als Faszinosum der Poesie. Dass Offen- und Gebundenheit einander nicht ausschließen, bewies Robert Gernhardt, indem er das Sonett als Form in Sonettform verächtlich machte. Dass sie einander befördern, davon zeigte sich Hanns Meinke überzeugt: „Dies ist erfahrung meiner reifezeiten: / Je enger ich mir meine fesseln schmiede / Um so befreiter kann ich lichtwärts schreiten“.

Was blieb zurück, da Memphis und Theben versanken,
Trümmerstarr, in der grünen Schlammflut des Nil?
Steine, Wurf eines Wüstenwinds, Staub auf den Pranken
Uralter Sphinx, drauf die Asche von Sodom einst fiel.

Sahst du die Nattern, die seewärts für immer entglitten?
Kaum einen Tag trug der Sand ihre zögernde Spur,
Häupter der Sperber, gekrönte, von Schwertern zerschnitten,
Schwanden im Rauch, wo kein Phoenix den Flammen entfuhr.

Zwei Stimmen nur, so heißt es weiter in Schwarzer Apollon, kenne der Lyriker: Die des Triumphes und die der Klage – für alles dazwischen gebe es Prosa. Im Ernst Jünger zugeeigneten „Gesang an den Horusfalken“ bringt Schilling beide in Einklang: Während im Betrauern des Unwiederbringlichen – „versanken“, „entglitten“, „schwanden“ – das Elegische zu seinem Recht kommt, dokumentiert die Melodizität der daktylischen Fünfheber das Epinikische, den Sieg der Fügung über das aus den Fugen Geratene. Flüchtiges wird im goldenen Verskäfig verwahrt, innere Sammlung überwiegt die äußere Zerstreuung.

So lange Menschen atmen, Augen sehn“, ruft der Dichter seiner verblassenden Inspiration – ob Memphis, Theben oder Maximin – zu, „Wirst du, wie mein Gesang, nicht untergehn“. Dieser Gabe zur Entzeitigung versichert sich Schilling, da er den Austausch mit Ebenbürtigen bevorzugt, wie meist im Selbstgespräch: „Sprich und die Wunden verschorfen, / Sing und die Schatten ziehn fort, / Welt, noch im Sturz unterworfen / Deinem bannenden Wort“.

Aus Einem Alles, aus Allem Eins

Als Material, seinen Formwillen auszuleben, dient ihm vornehmlich das mythische Erbe der großen Kulturvölker in unerschöpflicher Vielfalt und unverkennbarer Kongruenz: Noah, Deukalion und Utnapischtim überleben als Erwählte die Flut. Prometheus, Loki und Luzifer verzehren sich im Kampf gegen die heilige Ordnung. Rudra wird aus der Stirn des Brahma geboren, Athene aus der des Zeus. Orpheus und die Frau des Lot blicken im falschen Moment zurück. Gilgamesch und Enkidu finden ihre Entsprechung in Achilleus und Patroklos, Abraham und Sara die ihre in Philemon und Baucis.

Yggdrasil und Simorgh-Baum; Trinität und Trimurti; Empyreum, Merkaba, Pleroma: Farbenreich und einhellig zugleich muten die Überlieferungen an, wie Ausstrahlungen eines gemeinsamen Lichtquells, prismatisch in die frühen Hochkulturen hineingebrochen. Schilling liest diese Bruchstücke auf und verdichtet sie erneut zum Mosaik – aus Einem Alles, aus Allem Eins: „Aber in den Hainen, / Die dein Schritt erriet, / Werden sich vereinen, / Die der Himmel schied“.

Wir lasen auf den Tafeln der Kalifen:
Tritt ein und schweig – ich bin die Messingstadt.
Das Tigerband gezackter Hieroglyphen
Spricht: was auf Erden wallt, was Flügel hat,
Kehrt lichtgestillt zurück in meine Tiefen:
Dschinn, Marduk, Seraphim, der Fahrten satt,
Vlies, Urne, Gral, die Asche aller Gestern
Bewahrt der Stein in seinen Schweige-Nestern.

Pathos und Ironie

Zur universellen Inspiration tritt ein totalitärer Anspruch: Einzig der Künstler gilt Schilling nach Gottes Tod noch als Künder des Göttlichen. Nur er schaffe in unserer Welt der Bedingtheiten das Unbedingte, im ewigen Chaos das ein für alle Mal Kosmische. Auf dem Humus solchen Sendungsbewusstseins gedeihen Bonmots, die man lustvoll zitiert. Etwa: „Die normalen‘ Leute sind Schuldner des Dichters. Sie halten sich aber für Gläubiger“. Oder: „Dass mein Werk in der DDR möglich war, ist ihre Rechtfertigung vor der Geschichte“. Und als nach dem Mauerfall Arno Breker höchstselbst Zeichnungen für das Gemeinschaftswerk Tage der Götter beisteuert, zieht Schilling die souveräne Bilanz: „Vom Bildhauer des Führers zum Illustrator des Meisters“.

Gemein ist diesen Sätzen vor allem, dass sie im real existierenden Egalitarismus nur so lange gesellschaftstauglich sind, wie der gnädige Ironie-Verdacht sie entschärft. Daher lässt ihr Urheber mitunter auch andere Lesarten zu als die des heiligen Ernstes, freilich eher aus Pragmatismus denn aus Überzeugung. „Der Ironiker“, vermerkte Christian Morgenstern 1907 hellsichtig in seinem Tagebuch, „ist meist bloß ein beleidigter Pathetiker“.

Under- und Overstatement, oberflächlich als verhärtete Gegensätze missdeutbar, erweisen sich bei näherer Betrachtung als Überlebensgemeinschaft: Ironie, die ihrerseits der Größe bedarf wie das Sakrileg des Heiligtums, wirft in dürftiger Zeit den Schatten, der Pathos und Heroismus unbehelligt zu überwintern erlaubt. Und mag der kulturmorphologische Frühlingsbeginn auch weniger präzise zu terminieren sein als der meteorologische, so wird sich vom späten Knospen doch kein Verfechter eines zyklischen Geschichtsbildes beirren lassen.

Postheroische Gesellschaften, ob sie als „akephal“, „utilitär“ oder „szientistisch“ verschlagwortet werden, bleiben zuvörderst präheroisch: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel und am Ende gewinnen immer Nietzsche, Spengler – und Brecht: „Am Grunde der Moldau wandern die Steine, / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag, / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine, / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag“. Für Schilling will das besagen: „Man kommt niemals zu spät – man kommt höchstens zu früh“.

In Mitte der Ewigkeit

Gaul Geschichte, du hinkst!“ – diesen Vers aus Majakowskis 1918 entstandener Dichtung „Linker Marsch“, von Hugo Huppert verdeutscht und durch Hanns Eisler vertont, könnte sich rein textlich ein weltanschaulich gemischter Chor zu eigen machen. Allein klanglich wäre diese Kollaboration ein Wagnis. Denn während die Progressisten, nachzuhören bei Ernst Busch, die Worte empört im Diskant schmettern, dürfte der Reaktionär einer maßvollen Intonierung als cantus firmus zuneigen: Gleichförmigkeit nicht als zu beseitigendes Ärgernis, sondern als unhintergehbare Konstante und zugleich leere Mitte, vom Menschen mit Koloraturen und Arabesken umwunden unter der fruchtbaren Gewalt des horror vacui.

„Nachdem ich das Nichts gefunden hatte“, schreibt Mallarmé an Henri Cazalis, „fand ich die Schönheit“. Nihilismus, betont Benn in seiner Akademie-Rede von 1932, sei ein Glücksgefühl, das erst den Königsweg zum Schöpferischen ebne, ein „Gesetz des Produktiven“ konstituiere. In diesem Sinne wird Nietzsches Lehre der Ewigen Wiederkunft, indem sie alle äußere Teleologie durchkreuzt, zur Steigbügelhalterin des Entelechischen und damit der Künste, die Schopenhauer „überall am Ziel“ sieht und in jedem ihrer Werke eine „vollendete Repräsentation des Ganzen“.

„Wenn man von einem trefflichen Kunstwerk sprechen will, so ist es fast nötig, über die ganze Kunst zu sprechen“, merkt bereits Goethe mit Bezug auf die Laokoon-Gruppe an, „denn es enthält sie ganz, und jeder kann, soviel es in seinen Kräften steht, auch das Allgemeine aus einem solchen besonderen Fall entwickeln“. In Schillings Worten: „Dichten heißt, sich vom Unendlichen ins Endliche zu begeben. Aber das Endliche deutet aufs Unendliche – nicht zurück, sondern vor“.

Dieser Beitrag wird in Kürze fortgesetzt.

(Bild: v.l.: Ernst Jünger und Rolf Schilling, Black Wizard~dewikiCC-BY-SA 4.0)

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