Opfer von Gewalt, mit oder ohne Todesfolge, können unter gewissen Voraussetzungen als Einzelschicksale wahrgenommen werden.
„Unlustgefühle höchster Intensität“
Die scheinbare Nonsens-Frage, ob ein Baum, der im Wald umfällt, ohne dass es jemand merkt, auch Krach macht, ist geradezu Erfüllungsbedingung für Einzelschicksale: Es gäbe sie nicht, wäre nicht eine mehr oder minder breite Öffentlichkeit daran beteiligt. Die „Öffentlichkeit“ also muss sich a) auf irgendeine Weise anwesend wähnen sowie b) auf irgendeine Weise „dringlich“ sein. Aufgrund dieser doppelten Erfüllungsbedingung erzeugt der Selbstmord auch so gut wie nie Einzelschicksale.
Der Selbstmörder ist meist tatsächlich der Baum, der bei seinem einsamen Fall im Wald nicht den geringsten Krach macht, der also lautlos umfällt, ohne dass jemand davon Notiz nähme, geschweige denn es mitbekäme, selbst am Rande nicht. Die näheren Umstände eines Selbstmords müssen schon für sehr ungewöhnlich gehalten werden, um im Selbstmörder ein Einzelschicksal zu erblicken. Zu diesen gehört z.B. Mobbing unter Heranwachsenden. Auch der Selbstmörder, der Andere mit sich in den Tod reißt, erzeugt Einzelschicksale, ja, in ihm selbst kann ein Einzelschicksal erblickt werden, wenn das einer genügend großen Anzahl von Menschen so einfällt, so in den Sinn kommt. Der von Andreas Lubitz herbeigeführte Flugzeugabsturz ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
Das alles zeigt: Die öffentliche Wahrnehmung eines Einzelschicksals muss auf eine Art und Weise an die einzelnen Menschen weiter geben werden, die bei diesen eine Reihe bestimmter Emotionen auslöst: von Wut (Hass), Mitgefühl und -leid bis hin zu Bestürzung und Besorgnis, aber auch Angst, Scham, Entsetzen, Betroffenheit, Empörung und Entrüstung. Genau genommen handelt es sich bei diesen Emotionen um Formen der Ablehnung. Besser ist es jedoch, sie Unlustgefühle höchster Intensität zu nennen.
Gesellschaftliche Bedingtheit der Einzelschicksale
Was für Emotionen vorherrschen, kommt immer auf die Schilderung, besonders des Tathergangs, an. Dann noch gibt es kulturelle und soziologische Variablen: Was ein Einzelschicksal ist, wie es wahr- bzw. aufgenommen und wie darauf reagiert wird, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden.
Um 1830 erregte z.B. die besondere Sensibilität der Amerikaner in punkto Vergewaltigung von Frauen die Aufmerksamkeit Alexis de Tocquevilles. Die Aufmerksamkeit Tocquevilles erklärt sich ihrerseits aus der geringeren Sensibilität der damaligen Franzosen bezüglich desselben Gegenstands. Ob die Franzosen heute sensibler sind, mag man daran ermessen, wie der Sexskandal um Dominique Strauss-Kahn von der französischen „Öffentlichkeit“ gehandhabt wurde, und welches die konkreten Reaktionen der französischen „Gesellschaft“ darauf waren.
Spanien: Männergewalt gegen Frauen und Verkehrsunfälle
Einzelschicksale, die schnell wahrgenommen werden, haben allgemein mit „Menschenleben“ – Anführungsstriche hier der emphatischen Betonung wegen – zu tun, mit „Opfern“ und „Blutzoll“, welche „berühren“. Schön darstellen lässt sich das daran, wie in Spanien „Gewalt gegen Frauen“ die Gemüter erregt. Im Gegensatz zu Deutschland werden in Spanien die weiblichen Opfer „machistischer Gewalt“ (=Männergewalt gegen Frauen) in hervorragendem Sinne als Einzelschicksale wahrgenommen.
Dabei fallen in Deutschland sowohl absolut als auch relativ sehr viel mehr Frauen „Männern“ zum Opfer als in Spanien. In ihrer Aufnahmefähigkeit und Wahrnehmung sind die Deutschen entweder weniger sensibilisiert als die Spanier, was durchaus möglich sein kann, oder aber eine bestimmte spanische Öffentlichkeit, zu der es keine deutsche Entsprechung gibt, reagiert diesbezüglich mit unverhältnismäßig großer Hysterie, was ebenfalls gut möglich ist.
Auch Unfallopfer liefern in Spanien Einzelschicksale, wiewohl in diesem einstmals katholischen Lande – laut dem Soziologen Émile Durkheim wirkt der Katholizismus kulturell dem Selbstmord entgegen – die Selbstmordrate viel höher liegt als die der Unfallopfer mit Todesfolge: 2017 war der Selbstmord in Spanien die häufigste unnatürliche Todesursache.
Der Selbstmord wird aber so gut wie nie als gesellschaftliches Übel erkannt – die ganz wenigen Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel –, die Verunfallung im Straßenverkehr dagegen sehr wohl. Dank der Medien sowie staatlicher Kampagnen wissen die Spanier nur zu genau, wie viele Menschen jedes Wochenende, vor allem aber an den Feier- und Brückentagen, im Straßenverkehr „verbraten“ werden.
Da das Ganze etwas mit der Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit, hauptsächlich der Autofahrer, zu tun hat, gibt es mehr als einen vernünftigen Grund, sich zu entrüsten: „Autofahrer“ sind ja die meisten, „Verkehrsteilnehmer“ alle, auch die Fußgänger auf dem, angeblich rettenden, Bürgersteig – der „sichere“ Bürgersteig ist überhaupt ein Thema für sich –, folglich kann jeder, also vor allem ich, Opfer eines Verkehrsunfalls, mindestens aber zum Angehörigen eines Unfallopfers werden.
Gerade an diesen beiden Beispielen zeigt es sich: Einzelschicksale sind Schicksale, die man eigentlich hätte vermeiden können, oder die man zumindest so nicht hätte in Kauf nehmen müssen. Einzelschicksale sind immer „ungesollt“. Die Ungesolltheit erheischt ihrerseits den Schluss der Sinnlosigkeit: „Einzelschicksale sind sinnlos.“
Der Wirkungszusammenhang wird nicht richtig erkannt
Auch wenn das den meisten Menschen so nicht klar ist, so gehen sie insgeheim sehr wohl davon aus, dass in dem ihnen bekannten bzw. dem von ihnen vorausgesetzten bzw. dem von ihnen angestrebten Wirkungszusammenhang Einzelschicksale grundsätzlich zu vermeiden gewesen wären. Dass sie in der Realität dann doch nicht vermieden werden konnten, frustriert die Erwartung eines unversehrten Fortkommens in einer für bekannt gehaltenen Welt: die Welt ist eben doch nicht so bekannt und freundlich, wie man sie sich ausgemalt hat.
Die Blauäugigkeit, oder einfach nur Voreiligkeit, den Wirkungszusammenhang als „bekannt“ und „freundlich“ vorauszusetzen, wird von der Wirklichkeit nur allzu oft Lügen gestraft. Das sich daraus ergebende Gefühl der Hilflosigkeit führt seinerseits zu Zerknirschung, zu Unlustgefühlen höchster Intensität, mit den entsprechenden äußeren Reaktionen: Demonstrationen „Empörter“; Betroffenheits- und Solidaritätsbekundungen Mit- bzw. Gleichfühlender; kollektive Weinerlichkeit, welcher bestimmte Kinder-, Frauen- und Memmengesichter, entsprechend tränendrüsendrückend musikalisch unterlegt sowie rührend kommentiert, den treffenden Ausdruck verleihen usw.
„Gute Menschen“ sind schicksalsgläubig
Das Schicksal, dem der Einzelne zum Opfer fällt, verletzt ein optimistisches Weltbild, mit dem zugleich ein ethisches Erlebnis, speziell Selbsterlebnis, verbunden ist, nämlich das der eigenen Güte: „Die Welt ist gut, ich bin ein Mensch (in dieser guten Welt), folglich bin ich auch ein guter Mensch.“ Jedes Einzelschicksal zerstört die Integrität und Harmonie eines rosigen Weltbildes, welches Frohnaturen, guten Menschen also, eigentümlich ist.
Einzelschicksale, die selbstredend ein Unglück sind, drohen der Welt die frohe Natürlichkeit, Unbekümmertheit und Güte zu nehmen, was nicht sein darf. Jedes Einzelschicksal holt „ent-täuschte“, gute Menschen auf den harten Boden nicht minder harter Tatsachen zurück. Nur verbleiben die meisten guten Menschen nicht auf ihm und bleiben auch nicht „ent-täuscht“.
Um sich ihre Güte zu erhalten, heben sie ab und erklären sich die Dinge – besser ist es, von Undingen zu reden –, ihrer frohen Natur gemäß, gütiger, als sie es in Wirklichkeit sind. Dabei greifen sie nicht etwa zu Gott, sondern zu einem Aberglauben, welcher dann natürlich mehr Verwirrung anrichtet, denn Klärung schafft: Die gute Welt sollte eigentlich (auch) sicher sein. Die Opfer, die der vorausgesetzten Sicherheit der Welt zum Trotz entstehen, sind „ungesollt“. Deshalb ist das, was ihnen geschehen ist, sind die Undinge eben „Schicksal“, und zwar ein Schicksal, welches der Güte der Menschen wie auch der Güte der Welt nicht den geringesten Abbruch tut.
Der Wahn ist die normale gesellschaftliche Reaktion auf Einzelschicksale
In diesem Schicksalsglauben ist Schicksal also nicht höhere Fügung, sondern Fatalität, d.h. unabwendbares böses Schicksal, welches guten Menschen trotz ihrer sowie der Welten Güte zustößt.
Die Unvernünftigkeit dieses Aberglaubens findet ihren Niederschlag in der Unvereinbarkeit des kindlichen Gefühlsdogmas der Ungesolltheit der Opfer – „guten Menschen dürfen böse Dinge nicht zustoßen“ – bei gleichzeitiger empirischer Unabwendbarkeit des Schicksals.
„Schicksal“ lässt sich nicht erklären, unvernünftigen Kindern und Kindsköpfen erst recht nicht, und die Welt (Wirkungszusammenhang!), obschon gut, freundlich und bekannt, ist nun einmal so, wie sie ist: sie lässt Überraschungen negativer Art zu. An uns liegt es, sie zu verbessern, und so für Überraschungen negativer Art Vorsorge zu leisten.
Bei alledem ist von Ernüchterung oder „Ent-täuschung“ nicht die leiseste Spur. Was sich bemerkbar macht, ist vielmehr ein ungebrochenes Vertrauen in die absolute Leistungsfähigkeit unseres Versicherungs(un)wesens sowie in die nicht minder absolute Beschwörungsmacht von Vorsorgevorkehrungen. Hier sollte nun jeder merken: Der Schicksalsglaube hat einen Hoffnungsglauben zur Kehrseite.
Der Satz, „Das Beste Hoffen und mit dem Schlimmsten rechnen“, nennt den Sachverhalt beim Namen. Dabei hängt der den Schickalsglauben ergänzende Hoffnungsglaube nicht an Gott, sondern an der eigenen Haut: Die Unverbesserlichkeit des Optimismus, die Krampfhaftigkeit, mit der man sich an der eigenen Haut festkrallt, steigern sich in Form einer die Realität negierenden Hoffnungsgläubigkeit bis zur Unvernunft. Da wir es mit ganzen Gesellschaften zu tun haben, welche diesem doppelten Glauben, d.h. an Schicksal und Hoffnung, huldigen, tritt die Unvernunft bezüglich Einzelschicksalen, ihrer Erklärung, Verklärung oder auch Nicht-Erklärung, auch kollekiv in Erscheinung: „Normal“ ist für unsere Gesellschaften diesbezüglich nur der Wahn.
(Bild: Pixabay)
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