Anstoß

Wann ist der Mensch tot?

Post vom Spiegel, dem Geschichtenmagazin, das eine Story schon einmal mit „Als Friedrich Merz diesen Abend zu Bett ging, dachte er sich (…)“ begann, so als ob es seinen Lesern eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen wollte. Im gleichen allwissenden Erzählstil, der seinen Protagonisten in den Kopf zu kriechen scheint, berichtete der bekannte Lügenreporter Claas Relotius von zwei syrischen Flüchtlingskindern, denen manchmal – um im Bett zu bleiben – „Angela Merkel im Traum erscheint“.

Der Spiegel braucht jedenfalls für ein aussagekräftiges Meinungsbild der Deutschen meine Unterstützung. Der Verlag stellt mir dabei u. a. folgende Frage:

„Gesundheitsminister Spahn hat vorgeschlagen, jeden Bürger bis zum Widerruf automatisch zum Organspender zu machen – würden Sie eine solche Regelung befürworten?“

Bisher mussten potenzielle Organspender einer Organentnahme im Vorhinein ausdrücklich zustimmen. Welche Option greift, ist für mich nicht entscheidend. Ich denke, man sollte die Menschen in Würde sterben lassen. Vielleicht ist das Jenseits sogar eine Verheißung. Abgesehen davon können Tote keine Organe spenden. Tote Organe können auch nicht transplantiert werden.

Doch hier zaubert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die sehr spezielle „postmortale Organspende“ aus dem Hut. Für sie kämen Menschen in Betracht, „deren Gehirnfunktionen in Folge eines Unfalls oder einer schweren Krankheit erloschen sind, deren Herz-Kreislauf-System aber noch künstlich aufrechterhalten wird.“

Dabei erklärte der Bioethikrat der USA (President’s Council on Bioethics) bereits 2008 das Hirntod-Konzept für widerlegt. Demnach sei die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die US-Experten stellten punktgenau fest: „Das Gehirn ist nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen, vielmehr ist die Integration ein Zusammenspiel des ganzen Organismus.“

Organtransplantation – Kannibalismus

Davon unerschüttert informiert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Bevölkerung weiter in ihrem Sinne:

„Für eine erfolgreiche Organ- und Gewebespende ist es wesentlich, dass gespendete Organe gesund und funktionsfähig sind. Deshalb werden bei einem Hirntoten im Falle eines Einverständnisses in die Organspende unmittelbar vor der Entnahme des Organs verschiedene Untersuchungen durchgeführt, um die Funktionsfähigkeit der Organe zu überprüfen. Nach der Organentnahme wird der Leichnam in würdigem Zustand zur Bestattung übergeben. Die Angehörigen können in jeder gewünschten Weise Abschied von der Verstorbenen oder dem Verstorbenen nehmen.“

Millionen Deutsche schauen Tatort. Jeder weiß, dass durch einen Leichnam kein warmes Blut mehr fließt. Es wäre auch sehr makaber, wenn sich bei einem Leichnam am Tatort der Brustkorb so heben und senken würde, wie bei einem für die Organentnahme präparierten Sterbenden. Wenn die Voraussetzung für eine Organentnahme Gesundheit und Funktionsfähigkeit der betreffenden Körperteile ist, wie die Bundeszentrale sagt, dann wird ein Mensch nicht schon durch den Hirntod zur Leiche (zu einem toten Körper), sondern erst durch die Organentnahme.

Das Herz schlägt – der Mensch lebt

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatte noch nie jemand einen Hirntoten gesehen. Lange Zeit kannten wir nur einen Tod, den Herzstillstand. Wie ist es möglich, dass wir heute alle nicht mehr wissen sollen, wann man tot ist? Der Hirntod als neues Todeskriterium ist vor allem ein Produkt der Transplantationsmedizin. 1968, ein Jahr nachdem der Chirurg Christian Barnard das Herz einer hirntoten Frau verpflanzte, definierte eine Kommission der Harvard Medical School erstmals den Hirntod als den Tod des Menschen.

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) als deutschlandweite Koordinierungsstelle für die Organspende „nach dem Tod“ schließt sich – den aktuellen Stand der Wissenschaft leugnend – auch 50 Jahre danach immer noch dieser festlegenden und willensbekundenden Auffassung an:

„Der irreversible Hirnfunktionsausfall (IHA) wird definiert als Zustand der unumkehrbar erloschenen Gesamtfunktion des Gehirns (Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm). Dabei wird durch kontrollierte Beatmung und andere intensivmedizinische Maßnahmen die Herz- und Kreislauffunktion künstlich aufrechterhalten. Mit dem irreversiblen Hirnfunktionsausfall ist der naturwissenschaftlich-medizinische Tod des Menschen festgestellt.“

Die DSO sieht den Widerspruch nicht: Wenn ein Mensch mit dem festgestellten Hirntod auch medizinisch tot sein soll, wie sie betont, warum wird dieser sogenannte Hirntote trotzdem weiter medizinisch gepflegt  – für den Zweck der Organentnahme, wie es in der Praxis geschieht?

„Das hartnäckige Bemühen, das Hirntodkonzept von jeder anrüchigen Nähe zur Organtransplantation fernzuhalten und exklusiv als Todeskriterium zu offerieren, wird von der klinischen Realität konterkariert. In dieser ist der Hirntod wie ein siamesischer Zwilling untrennbar mit der Legitimation zur Organentnahme verbunden“, schreibt folgerichtig der engagierte Arzt und Bioethiker Linus Geisler.

Tote befriedigen Bedürfnisse? Glauben wir das wirklich?

Oft wird nicht naturwissenschaftlich, sondern naturphilosophisch argumentiert. Die erste Frage ist dann nicht mehr, wann ein Mensch tot ist, sondern was Leben ausmacht. Wenn ein aktiver Austausch mit der Umwelt und die selbstständige Atmung die entscheidenden Kriterien für Leben sind, dann müsste allerdings schon ein Embryo im Mutterleib als tot gelten. Doch er lebt, genauso wie für hirntot erklärte Schwangere, die noch Kinder zur Welt bringen.

Die Plazenta, die sich auch bei einer Hirntoten nicht in einem Vakuum oder einem künstlichen Uterus befindet, leistet viel mehr als alle anderen menschlichen Organe, die erst nach einer ausreichenden Entwicklungs- und Reifungsperiode ihre Funktion aufnehmen. Wikipedia: „Die Plazenta steuert ihr eigenes Wachstum und entwickelt parallel dazu volle Funktionstüchtigkeit. Dabei müssen in jedem Stadium der Schwangerschaft die jeweils spezifischen Bedürfnisse des Kindes befriedigt werden.“

Die Geschichte des alten Wolfs

Grundsätzlich sehe ich die Gefahr, dass eine rein naturwissenschaftlich bekräftigte Definition des Todesbegriffs – unter Ausblendung kultureller Deutungsmuster – den Zeitpunkt des Todes aus Nützlichkeits- bzw. Profiterwägungen gerne vorverlegt haben möchte. Man wird an die Lessingsche Fabel vom alten Wolf erinnert, der dem Schäfer verspricht, sich nur von toten Schafen zu ernähren. Doch der Schäfer durchschaut ihn: „Ein Tier, das mir schon tote Schafe frisst, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank anzusehen.“

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