Viel ist geredet und geschrieben worden über die neue Klasse des linken Bürgertums, des Bobos (Bohemian-Bourgeoisie), des anywhere und des grünen Spießers. Viel ist auch geschrieben worden über Leute, die auf der anderen Seite stehen: den Gelbwesten aus der Peripherie, den „kleinen Mann“ und den somewheres von David Goodhart.
Und eins steht offenbar fest: Zwischen beiden Klassen brodelt es. Die Gelbwesten verwüsten in ihrer Wut auf das Macron-Milieu Bankfilialen. Auf Demonstrationen von Pegida gibt es schon mal raue Töne gegenüber Journalisten und die meisten Stimmen gewinnen sogenannte populistische Parteien sicher nicht von ungefähr dort, wo die Cafes sich nicht jeden Nachmittag mit jungen Menschen, ihren Laptops und den Plänen für das nächste Start-up füllen.
Die Überlegenheit der Anywheres
Was ist nun aber mit dieser Klasse von jungen und weniger jungen Menschen in den urbanen Zentren? Wie denken sie über die Menschen, denen sie in den Bereichen der Bildung und des gesellschaftlichen Einflusses oft um Längen voraus sind?
Das Gebaren als moralische Instanz ist ein tief verankerter Habitus in der anywhere-world und im politischen Wettstreit wird nicht selten vorgegeben, das eigene politische Tun diene nicht weniger als der Rettung demokratischer Kultur oder der Menschenwürde. Zwangsläufig bildet dies eine starke Dissonanz zu der Tatsache, dass man sich im Besitz einer ganz wesentlichen Machtposition befindet.
Man wähnt sich auf der Seite der Guten. Doch Gut-sein schließt zumindest nach populären Narrativen mit ein, dass man sich auf die Seite der Underdogs zu stellen hat. Im Zweifelsfall also jenen Menschen, von denen man nichts weiß und deren Lebensrealität man kaum kennt. Wie sich also aus diesem Dilemma befreien?
„Wozu wählen? Der Mensch will eine Liege auf Malle und eine harte Hand, die ihn führt. Keine gute Vorraussetzung für eine demokratische Gesellschaft“ schrieb Sibylle Berg im Februar diesen Jahres in ihrer Spiegel-Kolumne. Das ist ein zutiefst merkwürdiger Satz. Die harte Hand – soweit mag man ihr folgen können. Sehnsucht nach Autorität auf der einen Seite und die Mündigkeit des Bürgers auf der Anderen. Da ist ein Widerstreit, sicher.
Aber die „Liege auf Malle“? Das ist ein Symbol, und es steht nach den gängigen kulturellen Codes für ein deutsches Bürgertum mit geringer Bildung und wenig Sinn für geistige Dinge. Warum folgt daraus eine Bedrohung für die Demokratie? Wir könnten daran herumrätseln, doch das müssen wir gar nicht, denn Frau Berg macht ihr Anliegen sogleich noch etwas deutlicher: „Die AfD ist die Partei der motzenden, deutschen Ballermann-Rentnerinnen“.
Linker, antidemokratischer Moralismus
Abgesehen davon, dass das auch faktisch falsch ist (tatsächlich weist die Altersgruppe der über 70-jährigen den geringsten Prozentsatz an AfD-Wählern aus), wird hier nicht einmal mehr mit irgendwelchen autoritären Gelüsten argumentiert, sondern die Klassenzuschreibung an sich soll bereits der Verdammung dienen. Ebensogut hätte Frau Berg schreiben können: „Diese Menschen gehören einer Klasse an, die unter mir steht und jetzt wählen sie auch noch Parteien, die ich ablehne“. Unklar ist hierbei nur, ob diese Herablassung lediglich genutzt werden soll, um den politischen Gegner in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken, oder ob die politische Dimension nicht vielleicht einfach dazu dient, dem eigenen Klassendünkel einen legitimen, ja moralischen Anschein zu geben.
Ein anderes Beispiel: In einem auf Facebook veröffentlichten Video des öffentlich-rechtlichen Formats Panorama, gepostet kurz nach dem Brexit, verkündete Moderatorin Anja Reschke:
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mich beschäftigt dieser Brexit irgendwie immer noch. Vor allem die Frage, ob eigentlich die Volksabstimmung bei so ’nem entscheidenden Thema der richtige Weg ist. Ich meine, klar: ’ne Demokratie muss irgendwie auch das Volk mitnehmen, muss irgendwie wissen, was das Volk will. Aber 51,9 % der Briten haben jetzt also gegen den Verbleib in der EU gestimmt. Und von diesen 51,9% haben einige im Nachhinein jetzt auch gesagt ah, sie waren jetzt vielleicht gar nicht so informiert und ham’ jetzt so ein bisschen Muffe, ob das eigentlich richtig war, was sie entschieden haben. Da frage ich mich: Ist so ’ne Volksabstimmung dann eigentlich richtig, ist das jetzt gerecht, ist das jetzt der richtige Weg um rauszufinden, was das Volk will. In Deutschland gibt’s ja auch immer wieder die Forderung nach mehr Volksentscheiden. Aber mal ganz ehrlich, wenn Sie jetzt zum Beispiel so ’ne Sache wie TTIP entscheiden müssten, könnten Sie das? Ich meine, da muss man tausende von Dokumenten gelesen haben, man muss Ahnung haben von Handelsbeziehungen, von Wirtschaftsbeziehungen. Traut man sich das als Einzelner wirklich zu?
Festzuhalten ist hier natürlich erst einmal das katastrophale Demokratieverständnis um nicht zu sagen, die offen von Frau Reschke zur Schau gestellte Verachtung für demokratische Prozesse. Denn es lässt sich ja kaum anders lesen, als ein Bekenntnis zum Glauben daran, dass der Bürger bei politischen Entscheidungen, die zum Teil sein eigenes Leben erheblich betreffen, kein eigenes Mitbestimmungsrecht haben darf.
Anja Reschke und die Klassenherrschaft
Doch es gibt hier noch eine andere Komponente. Schließlich scheint Reschke ja durchaus überzeugt davon zu sein, dass sie bei ihrer Berichterstattung in der Lage ist, über derart komplexe Themen zu berichten und dabei alle notwendigen Informationen zu verarbeiten. Zudem war der Brexit sehr konkret ein Milieukampf zwischen den Bobos in den urbanen Zentren und dem Kleinbürgertum aus den ländlichen Gegenden und Kleinstädten. Man kann erhebliche Zweifel daran haben, dass ihr die Praxis des Volksentscheids genauso problematisch erschienen wäre, hätte „ihre“ Klasse dabei gewonnen. Ihre Aussage lässt sich somit kaum anders lesen, als dass sie sich und die Klasse, der sie angehört, als steuernde Kraft in der Gesellschaft und in der Politik sieht, den unteren Klassen dies jedoch verwehren möchte. Das ist Klassenherrschaft in feinster Definition.
Ein letztes Beispiel sei noch angeführt: Es handelt sich dabei um eine Polemik. Felix Dachsel veröffentlichte am 29. März 2019 auf der Website von Vice einen Artikel, in dem er sich anlässlich des Videos zum Lied „Deutschland“ über die Band Rammstein echauffiert. Obwohl ihm eigentlich klar sein müsste, dass das Lied ebenso wie das dazugehörige Video eine deutliche Linkspositionierung der Band darstellt, welche in einer Reihe mit deren früheren politischen Liedern wie „Links 2, 3, 4“ und „Mein Land“ steht, missfällt ihm die Musikgruppe offenbar. Begründet wird dies so:
Rammstein, das ist kontrollierter deutscher Exzess für Dresden, Hannover, Rostock, Gelsenkirchen (…). In diesem Jahr, große Tournee, werden wieder Controller-Papis ihre Excel-Tabellen liegen lassen, in ihren frisch gesaugten Audi steigen und sich in eine Arena pressen für ein bisschen Feuer und autoritären Zauber. Und sie werden ihre Fäuste in den Himmel recken zum Lied „Deutschland“ und sich gehen lassen, mehr noch als bei der Nationalmannschaft – und es wird ihnen so was von scheißegal sein, dass ein paar spitzfindige Feuilletonisten im Lied einen doppelten Boden entdeckt haben (…).
Dresden, Hannover, Rostock und Gelsenkirchen also. Man braucht nicht lange zu überlegen, worauf der Autor mit dieser Aufzählung abzielt und welche Gemeinsamkeiten diese haben: Es sind Städte, in denen sich das Bobo-Milieu nicht ausgebreitet hat und sich bislang nicht wohlfühlt; in denen hingegen ein Bürgertum lebt, dass man in weitesten Teilen zu den somewheres zählen kann.
Die Verachtung der Masse
Es ist bemerkenswert, wie groß Herrn Dachsels Verachtung für diese Menschen sein muss. Ähnlich wie im Text von Berg finden wir merkwürdige Versuche, diesen Klassendünkel zugleich mit vagen Andeutungen auf die angeblichen mangelnden demokratischen Tugenden eben jener Klasse zu legitimieren. Wo er in der Tatsache, dass Fans auf einem Konzert die Lieder der Band mitsingen, autoritäre Züge entdeckt, bleibt dabei völlig unklar. Und ebenso wie Berg finden wir auch hier den Begriff „deutsch“, der in völliger Selbstverständlichkeit als negatives Klassenattribut verwendet wird.
Nun sind dies natürlich drei spezifisch herausgegriffene Artikel aus der Flut des täglichen Journalismus. Dennoch scheinen sie in ihrer Dynamik und in ihrem Denken symptomatisch für die Mentalität der Bobos und man braucht keine großen Gedankensprünge zu vollziehen, um die Konsequenzen zu erahnen.
(Bild: Anja Reschke, von:
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