Wählen lohnt sich nicht, war sich der amerikanische Politikwissenschaftler Anthony Downs sicher. Der Urheber der Theorie des „rationalen Wählers“ empfahl deshalb die Wahlenthaltung. Die Macht des politischen Placebos ließ er unberücksichtigt.
Würde Downs’ Theorie zutreffen, wäre die Wahlenthaltung bei allen Wahlen der Normalfall. Dann würden nicht mehr über 80 Prozent der wahlberechtigten Bürger wie zuletzt in den Niederlanden in der Hoffnung an die Wahlurne rennen, dass ihre Stimme zählt, sondern am Wahltag Alternativbeschäftigungen nachgehen. Downs’ Theorie macht allerdings nur Sinn, wenn der Wähler weiß, dass seine Stimme nichts wert ist und eine Wahlenthaltung für ihn mit dem größeren Nutzen verbunden wäre.
Im Kern geht es also für einen rationalen Wähler nicht darum, „Martin! Martin!“ zu rufen oder mit den Händen eine „Raute“ zu bilden, sondern seinen Nutzen zu optimieren. Dadurch erhält die Rationalität einen instrumentellen Charakter. Der rationale Wähler bemisst sein Handeln in dem Maße als rational, wie es seinen ökonomischen und politischen Zielen dient. Damit eine rationale Wahlentscheidung möglich ist, müssen laut Downs verschiedene Bedingungen erfüllt sein.
Wähler brauchen echte Alternativen
Die erste Bedingung besteht darin, dass eine Wahlmöglichkeit bestehen muss. Der Wähler sollte also die Möglichkeit haben, eine Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen zu treffen. Daraus resultiert als zweite Bedingung eine individuelle Nutzenfunktion des Wählers. Das bedeutet, dass ein rationaler Wähler in der Lage sein muss, sich für eine Option zu entscheiden oder auch zu entscheiden, dass er sich nicht zwischen mindestens zwei Optionen entscheiden will. Die dritte Bedingung ist die Fähigkeit des Wählers, eine Präferenzordnung zu bilden.
Um aber zu wissen, welche Partei die beste Option ist, muss der rationale Wähler sich Informationen beschaffen. Mit dieser Beschaffung sind in Downs’ Modell Kosten verbunden, die den Nutzen der Stimmabgabe übersteigen. Erst in diesem Kontext kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die Wahlenthaltung für den rationalen Wähler den größten Nutzen mit sich bringt.
Wahlen sind mehr als eine reine Nutzenkalkulation
In der Theorie wirken diese Überlegungen relativ überzeugend. Sie sind aber nur zu einem gewissen Teil in der Lage, die politische Realität unserer Tage zu erklären. Dazu gehört nicht nur das „Martin! Martin!“-Gerufe aus der Grabesruhe der Großen Koalition erwachter SPD-Anhänger. Auch die Wahlerfolge der AfD bei den Landtagswahlen des letzten Jahres passen als Teil dieser Realität nicht so recht in das Bild des rationalen Wählers. Offenbar verbinden die Wähler mit Martin Schulz und der AfD mehr, als sich in der Dimension ihrer rationalen Nutzenfunktion erschließen lässt. Denn jeder, der halbwegs bei Verstand ist, dürfte leicht erkennen, dass sich durch die Wahl von Martin Schulz oder der AfD weder die „großen“ Probleme Deutschlands lösen lassen, noch dass dadurch eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation eintritt.
Dabei macht es insbesondere Martin Schulz seinen Wählern besonders leicht, diesen Umstand zu erkennen. Außer dem von „Mister 100%“ ausgelösten Hype um die eigene Kandidatur hat er inhaltlich wenig mehr als die Fortsetzung sozialistischer Ideologie im Gewand des sich aus dem Suff befreiten Karriereschmarotzers zu bieten.
Parteien sollen bei der Lebensbewältigung helfen
Die AfD wirkt dagegen inhaltlich deutlich solider. Schon im Parteinamen vermittelt sie den Anspruch die Alternative zu sein, die sich ein rationaler Wähler theoretisch wünschen muss, um eine optimale Wahl treffen zu können. In der Wahlpraxis zeigt sich insbesondere daran, dass sie bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr rund 20 Prozent ihrer Wähler aus dem Lager der „Nichtwähler“ gewinnen konnte. Gemäß Downs’ Theorie haben es diese Wähler also als rationaler und damit für sich selbst nutzbringender erachtet, die AfD zu wählen, anstatt sich erneut der Wahl zu enthalten.
Wie dieser Nutzen beziehungsweise die Nutzenerwartung konkret aussieht, geht aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2016 hervor (hier als PDF). Darin wurde ermittelt, welche Gemütslage AfD-Wähler haben. Es zeigte sich, dass ein Großteil von ihnen mit der Demokratie in Deutschland unzufrieden ist, sich um die allgemeine Wirtschaftslage und die eigene finanzielle Situation sorgt und sich vor Kriminalität und Zuwanderung fürchtet. Von der Wahl der AfD erhoffen sich diese Wähler dann eine Bewältigung dieser Sorgen und der eigenen Unzufriedenheit. Dass ihnen die AfD dabei ebenso wenig helfen wird wie Martin Schulz oder Angela Merkel trifft zwar objektiv zu, spielt aber auf der Ebene der subjektiven Nutzenerwartung keine Rolle.
Politische Wirkung bei objektiver Wirkungslosigkeit
Wie beim „Schulz-Effekt“ zeigt sich hier die Macht des politischen Placebos, das eine Wirkung bei objektiver Wirkungslosigkeit verspricht. Sein Beipackzettel in beliebiger parteipolitischer Färbung verkündet nicht weniger als einen politischen Wandel, von dem der Wähler direkt profitieren kann. Die Wahl einer x-beliebigen Partei soll ihn von seinen Sorgen erlösen und ihm überhaupt alles bieten, was der Staat an mehr oder weniger segensreichen Leistungen bereithält.
Ob ihm für seine Stimme mehr soziale Gerechtigkeit oder ein Schutz vor Zuwanderung versprochen wird, ist letztlich gleichgültig. Denn damit ein Wähler eine optimale Wahl treffen kann, reichen ihm Versprechen nicht aus. Er muss wissen, was diese Versprechen wert sind, um sie in seine Nutzenkalkulation einbeziehen zu können. Vor einer Wahl ist das unmöglich zu sagen. Dass ein Wähler seine Sorgen am besten selbst bekämpft und in seiner Freiheit der Schlüssel zur Lebensbewältigung liegt, darauf muss er allerdings selbst kommen.
Die Anbieter des politischen Placebos werden ihm bei dieser Erkenntnis sicher nicht helfen. Für sie geht es im Wahlkampf und in der politischen Praxis schließlich nur darum, wer die objektive Wirkungslosigkeit der eigenen Politik am besten vertuschen kann.
(Bild: Pixabay)
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie uns mit einer kleinen Spende. Fünf Euro reichen bereits aus, damit hier ein Jahr auf hohem Niveau gearbeitet werden kann:
1 Kommentar zu “Die Macht des politischen Placebos”