Rezension

Diktatur-sozialisiert?

Überlegungen aus Anlaß von Peter Ruben, Camilla Warnke (Hg.): Aktenzeichen I/176/58, Strafsache gegen Langer u.a.: Ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der DDR-Philosophie. Leipzig 2021

Dies Buch sei insbesondere allen zur Lektüre empfohlen, die meinen, die Bürger Ostdeutschlands als diktatursozialisiert bezeichnen zu müssen. Und dann mögen sie erklären, was diese Feststellung für die aktuelle Politik bedeutet.

Wer einst in der DDR gelebt hat, dort aufgewachsen ist, war mehr oder weniger von solchen Vorgängen betroffen, hatte zumindest irgendwie davon gehört, blieb niemals völlig unbetroffen. Sind diese Bürger deswegen heute nicht demokratiebefähigt? Würde man das von Menschen behaupten, die aus Afrika kommen, hieße es, das sei rassistisch, stellte Monika Maron fest.

Wenn Herr Wanderwitz von Diktatursozialsierung schwätzt, reproduziert er Vorstellungen, die der Stalinist Lyssenko zu einer schlimmen Theorie ausgearbeitet hatte: Die Individuen erwerben in ihrer Umwelt angeblich Verhaltensweisen, die sie auch unter veränderten Bedingungen beibehalten und vererben. Wenn Menschen nicht so denken und handeln, wie sie sollten, könne man mit ihnen keinen sachlichen Diskurs führen, sondern müsse sie als Feinde bekämpfen.

Man kann anhand der von Peter Ruben und Camilla Warnke vorgelegten Dokumentation, bei der man sich vielleicht fragen mag, was uns die Auseinandersetzungen vor mehr als zwei Generationen heute noch angehen, studieren, wie aufgrund der eigenen Erfahrungen und des erworbenen Wissen eigenständig gedacht wird, wie darin auch Irrtümer enthalten sind, die für die Betroffenen schlimme Konsequenzen hatten, daß aber die Verfolgung Andersdenkender das nonkonformistische Denken und Handeln nicht ausmerzen kann.

In seltener Ausführlichkeit wird hier dokumentiert, wie Andersdenkende im realen Sozialismus unterdrückt wurden, wie sie als Feinde behandelt wurden, obwohl sie den Sozialismus nicht beseitigen, sondern verbessern wollten. Vergleiche zum Umgang mit Andersdenkenden heutzutage bieten sich an. Da wird mancher einwenden, das könne man nicht vergleichen. Doch: Man kann alles mit allem vergleichen und Ergebnis der Vergleichshandlung ist als Vergleichsresultat, daß die verglichenen Dinge, Sachverhalte oder Vorgänge in bestimmter Hinsicht verschieden – die Verschiedenheit ist ja beim Vergleich vorausgesetzt –, in anderer Hinsicht aber ähnlich oder gleich sind.

Glückliche Umstände machten diese Dokumentation möglich: Sechs prall gefüllte Ordner mit Dokumenten und es kam noch weitaus mehr hinzu. Gesprächsnotizen, Protokolle, Berichte der STASI, SED-Archivmaterial, Gerichtsakten konnten ausgewertet werden. Die Betroffenen konnten als Zeitzeugen befragt werden, mit Ausnahme von Heinz-Dieter Schweikert, der am 25. November 2011 verstorben ist, und von Gerd Behrens, der am 4. Januar 2016 starb.

Auch die anderen Helden seien hier namentlich genannt: Michael Franz, Karl Sauerland, Peter Langer, Karlheiz Messelken, Peter Ruben, Alfred Schwandt, Wolfgang Knorre. Ja, es sind Helden und dieses Buch ist ihrer als Heldendenkmal würdig. Es gelang dem System nicht, sie mit rüdem Vorgehen, sozialer Deklassierung, Gefängnishaft zu brechen. Jeder blieb ein „standfester »Homo politicus«“ (So Heiner Schmidt im Nachruf auf Heinz-Dieter Schweikert, zit. S. 299f.) – sie blieben, was man wohl mit Albert Camus glückliche Sisyphüsse nennen könnte: Sie taten in einem System, das nicht zu retten war und seinem eigenen Untergang entgegenarbeitete, ihr Bestes. Es sei bei der Gelegenheit auch daran erinnert, daß es bereits aus DDR-Zeiten künstlerische Darstellungen des sozialistischen Sisyphos gibt: Manfred Krug als Brigadier Balla im Film „Spur der Steine“ (1966), Hermann Beyer als Wahrheitssucher Pötsch und Eberhard Esche als Märchenumdeuter Bradtke im Film „Märkische Forschungen“ (1982). Der Band „Aktenzeichen I/176/58“ liefert auch viel Stoff für literarische Bearbeitung. Heldenepen, Dramen, Tragikomödien, Schurkenstücke, …

Wenigstens auch zwei der Schurken seien hier genannt: Herbert Hörz, damals Seminarleiter, später in der DDR zum Professor aufgestiegen und nach der Wende Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, gerierte sich im Nachhinein selbst als Opfer (dazu S. 17ff). Wolfgang Eichhorn I, später auch zum DDR-Professor aufgestiegen und nach der Wende Präsidiumsmitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, hatte zunächst nach Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen durch Chrustschow offene Diskussionen begrüßt, wußte dann aber, daß man von ihm erwartete, Andersdenkende als Verbrecher im Geiste zu entlarven (S. 78-81).

Schließlich wurde er – inzwischen zum Parteisekretär geworden – zum Anführer der Meute (S. 196-212). Eichhorn war auch willfähriger Geheimgutachter im Prozeß gegen Rudolf Bahro. Er und Hörz haben sich dann in der Ruben-Affäre erneut als ideologische Wadlbeißer betätigt, die den Beschuldigten das Gewand zerreißen wollten (S. 354-372; ausführlich dokumentiert in Hans-Christoph Rauh (Hg.): Gefesselter Widerspruch. Die Affäre um Peter Ruben. Berlin 1991).

Und wir sollten nicht vergessen, daß wir fast nur die prominentesten Unterdrückungsaktionen kennen, deren Muster fast immer gleich sind: Die sogenannte konspirative Gruppe um Wolfgang Harich, die vermeintlichen Revisionisten Arne Benary und Friedrich Behrens, die angebliche Schirdewan-Wollweber-Gruppe, die Vertreibung von Ernst Bloch, die Havemann-Affären, das Vorgehen gegen jene, die zu protestieren wagten, als Panzer den Prager Frühling niederwalzten.

Die Stefan-Heym-Affären. Rudolf Bahro, der im SPIEGEL Auszüge seiner Alternative veröffentlichen ließ und dazu ein Interview gab, wurde schon am nächsten Tag verhaftet. Die Biermann-Affäre, die Ruben-Affäre. Das Vorgehen gegen Bürgerrechtler, als die mit „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ an die Öffentlichkeit traten. Haben wir heutzutage eine ähnliche Liste von Prominenten, die unser demokratisches System nicht beseitigen, sondern die Politik nur verbessern wollen, aber deswegen als Feinde ausgegrenzt werden – etwa: Sarrazin, Lengsfeld, Steinbach, Maaßen, Tellkamp, Steimle, Maron?

Die vielen Aktionen gegen wenig Prominente bleiben leider meistens unbemerkt und im Grundsatz muß man wohl sagen: Je weniger an die Öffentlichkeit drang, je weniger prominent die Andersdenkenden waren, umso heftiger trafen sie Unterdrückungsmaßnahmen. Allerdings ist auch zu konstatieren: Ähnlich wie in feudalen Systemen waren die Maßnahmen je nach Status der Delinquenten mal schärfer, mal milder.

Aber darauf konnte sich niemand verlassen. Das Gegenstück zur Statusprivilegierung war die von den Machthabern eingeforderte Vasallentreue, die dann auf Entlohnung mit Karriere und Privilegien hoffen ließ. Aber selbst wer sich irgendwie willig in das System einordnete, konnte sich nicht auf Belohnung verlassen, zumal mit dem Ende des Stalinismus nicht mehr genug Pfründe radikal freigeräumt werden konnten. Etablierte Genossen behinderten zunehmend die Aufstiegschancen, das System erstickte in Saturiertheit und viele Hintersassen gaben es schließlich auf, zu funktionieren, wie sie sollten (dazu Bernd Florath: Die SED im Untergang). Der reale Sozialismus konnte sich schließlich nicht mehr auf sich selbst verlassen …

Dieser Text wurde zuerst der WeLT, der FAZ und der Berliner Zeitung angeboten, wobei nicht damit gerechnet wurde, daß von dort wenigstens eine ablehnende Antwort kommt, geschweige denn, daß dieser Text dort veröffentlicht wird. So war es dann auch. Der komplette Text ist zuerst am 21.10.2021 hier erschienen.

1 Kommentar zu “Diktatur-sozialisiert?

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