Rezension

Englands Intrigen vor dem Ersten Weltkrieg

Welche Schuld haben England und die USA am Ausbruch des Ersten Weltkrieges? In „Unterwegs zur Weltherrschaft“ versucht Helmut Roewer dies zu beleuchten.

In einer weniger ideologisch geprägten Kulturwelt würde Helmut Roewers Untersuchung der Scharnierrolle der englischen Regierung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Selbstverständlichkeit gelten. Was Roewer emsig aufdeckt, sollte keinen Sachkenner erstaunen. Das Kunststück besteht darin, dass der Verfasser uns eröffnet, was die antideutsche Intelligenz jahrzehntelang verdeckt oder beiseite geschoben hat.

Seit langem liegt es nahe, dass Fritz Fischer und seine Anhänger die These vom streitlustigen deutschen Zweiten Reich, das einen Europa verschlingenden Krieg zur Weltherrschaft auslöste, nur mit Missachtung zahlreicher Quellen beweisen konnten. Als die der Fischer-These anhaftenden Macken augenscheinlich wurden, versuchten immer wieder antideutsche Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und mein Dissertationsvater Hajo Holborn das Erzählgewebe zurechtzuflicken. Wenigstens für mich lief das Maß über, als ich einer dahingehenden Wertung des deutschamerikanischen Historikers Fritz Stern vor vierzig Jahren begegnete, der ernsthaft meinte: Auch wenn die Fischer-These sich nicht gleichförmig reimt, dann verlangt der Anstand, das Pfuschwerk aus moralischen Rücksichten zu bejahen, um den deutschen Nationalismus keinesfalls aus der Flasche zu lassen.

Wie die Alleinschuldthese ins Wanken geriet

Inzwischen haben dennoch weltweit zahlreiche, jüngere Historiker mit der Alleinschuldthese aufgeräumt. Die Schuldlast wurde so auf das Zarenreich und Frankreich verschoben, ohne die Stellung im Ganzen fallen zu lassen, dass die Mittelmächte den Kriegsausbruch am meisten verschuldeten. Dann und wann wird die serbische Regierung ins Gespräch gebracht und deren Verbindungen mit dem Attentat auf Franz Ferdinand und seine Gattin gehörig vermerkt. Statthaft wurde auch die Mobilmachung der russischen Streitkräfte entlang der deutsch-galizienischen Grenze am ersten August 1914 anzusprechen. Das war ein Erreger, der die deutsche Kriegserklärung gegen Russland und den Überfall auf Russlands Verbündeten Frankreich herbeiführte.

Erlaubt ist es gleichfalls darauf hinzuweisen, dass die französische und russische Regierung durch den Juni 1914 Kriegsmaßnahmen gegen Deutschland und Österreich-Ungarn miteinander berieten. Der französische Präsident Raymond Poincaré versicherte am 22. Juni 1914 dem russischen Außenminister, in Streitigkeiten gegen die Mittelmächte einzutreten, wenn die Russen den Kampf zuerst aufnehmen. Der australische Historiker Christopher Clark ergänzte zudem, dass weder die Mittelmächte noch die Entente-Verbündeten sich das Ausmaß des verheerenden Krieges hätten ausmalen können. Allenfalls rechneten die Streitmächte zu Beginn mit einem „short, limited war“.

Zu diesem Post-Fischer-Muster kommt hinzu, dass die Österreicher den Kriegsausbruch durch die an Serbien gestellten ungeheuren Forderungen zuließen. Und die deutsche Regierung geriet katastrophal auf Abwege, als sie den Österreichern einen „Blankoscheck“ ausstellte, gegen die feindseligen Serben zu verfahren. Die Mittelmächte sind also bei weitem nicht von jeder Schuld freizusprechen.

Warum England bisher so wenig beachtet wurde

Helmut Roewer (hier im BN-Interview) blickt nun in Unterwegs zur Weltherrschaft auf den englischen Weg in den Ersten Weltkrieg. Aus zwei Gründen wird der Beitrag der Regierung des Sir Edward Grey, des englischen Außenministers, zum Kriegsbeginn unterbetont. Die Engländer sind im Verhältnis zum heraufziehenden Sturm typischerweise als Teilaußenseiter hingestellt. Während sie mit Frankreich und Russland gegen die Deutschen verbündet waren, besteht noch der Eindruck, dass England Deutschland zu bekriegen gezwungen wurde, weil die von ihm gewährleistete Neutralität Belgiens von den deutschen Armeen übertreten worden war. Bisher wurde zudem die Sorge Englands anerkannt, dass ein geschlagenes Frankreich zu einem Machtübergewicht Deutschlands in Europa geführt hätte. Trotz seines anfänglichen Schwankens stürzte sich England so in die Bresche, um die Nachwirkung eines schmetternden deutschen Sieges abzuwehren. Außerdem erfreut sich das „liberaldemokratische“ England einer höheren politischen Wertstelle als das deutsche Zweite Reich, das für die tonangebende Intelligenz schon damals als das Obrigkeitsregime schlechthin galt.

England wollte Deutschland schon seit 1905 isolieren

Auch Historiker wie Harry Elmer Barnes und Christopher Clark, welche die geteilte Verantwortlichkeit der beiderseitigen Streitmächte für den Kriegsausbruch hervorkehren, schonen einigermaßen die englische Regierung. Sie erachten den englischen Außenminister Sir Edward Grey als einen nachrangigen Spieler bei den im August 1914 überhandnehmenden Ereignissen. Nur weil die Deutschen den Stein ins Rollen brachten, Belgien widerrechtlich überrannten und Frankreich bedroht wurde, fühlten sich die Engländer bedrängt, sich ins Getümmel zu stürzen. Roewer dagegen konzentriert sich auf die brenzlige Außenpolitik der Grey-Regierung von 1905 an, die darauf gerichtet war, die Deutschen von den anderen europäischen Mächten abzusondern. Die feindliche Umkreisung war bekanntlich erfolgreich und England ökonomisch wie politisch ein Nutznießer davon.

Zur Erhärtung seiner These erweitert Roewer das Blickfeld rückblickend, von dem Vorfeld des Kriegs bis hin zum langen in den Kriegsausbruch führenden Weg. Unter diesem Gesichtspunkt versucht er die Tragweite der Verantwortlichkeit von Grey und seinen Regierungsvertrauten zu bemessen. Irreleitend wäre es, so Roewer, die im Sommer 1914 sich verdichtende Kriegskrise ohne einen die britische Regierung mit einschließenden Hintergrund zu untersuchen. Seit der Schaffung seiner Koalitionsregierung sannen die Schlüsselfiguren in Greys Kabinett darauf, eine antideutsche Front mit den Franzosen und Russen zu schmieden. Einflussreiche Pressebaronen und die Kriegspartei im Kabinett beratschlagten den „Krieg in Sicht“ hinter den Kulissen ohne Mitwissen der weniger streitlustigen Kabinettsminister, die im Dunkeln gelassen wurden.

Plante England den Ersten Weltkrieg gemeinsam mit den USA?

Gleich nach dem ersten Kriegshandeln fasste Grey den Entschluss, sein Land ins Gemenge zu wuchten. Dies gestand er in seinen nach dem Krieg herausgebrachten Erinnerungen auch ein. Weniger überzeugend ist dagegen Roewers Versuch, der amerikanischen Regierung und dem Bankgewerbe in den USA eine Steuerungsrolle bei den antideutschen Ränkespielen von Grey, Churchill und dergleichen zuzuweisen. Die damaligen amerikanischen Eliten waren zwar eisern entschlossen, einen englischen Sieg zu gewährleisten. Das begründet aber keineswegs, dass etwas wie eine geteilte Kriegsplanung vor sich ging.

Aus der Teilnahme der amerikanischen Oberschicht für die englische Sache lässt sich beileibe nicht ableiten, dass die zwei Länder ein Kriegskomplott miteinander schon vor dem Schießen schmiedeten. Wenn man die Außenpolitik der Wilson-Regierung ab 1914 bis zur Kriegserklärung gegen Deutschland  umschreiben will, dann darf man sagen, dass sie geeignet war, alles Mögliche zu tun, damit die Engländer die Oberhand über die Deutschen gewinnen – ohne aber in den Krieg direkt einzutreten. Das war bestimmt nicht die echte Neutralität. Jedoch, wie Justus Doenecke in seiner ausgewogenen Behandlung der Neutralitätspolitik Woodrow Wilsons reichlich belegt, der amerikanische Präsident, der zugegebenermaßen probritisch ausgerichtet war, wollte einen mittleren Kurs halten, zwischen den kriegsstiftenden WASP-Republikanern und den kriegsabgeneigten Elementen in der Demokratischen Partei.

Die USA wären so oder so der große Gewinner des Ersten Weltkrieges gewesen

Das Gewoge der probritischen oder antideutschen Empfindungen seiner Kollegen hat Wilson nie eingedämmt, aber gewillt war er, die britische Seite zu begünstigen, ohne amerikanische Streitkräfte nach Europa zu beordern. Der deutsche Wiedereinsatz von U-Boot-Kriegsmitteln 1917 zur Entlastung der britischen Hungerblockade erlaubte es den amerikanischen Interventionisten, durch den Kongress einen Kriegseintritt durchzupeitschen. Ohne diese Machenschaften zu beschönigen, passt es, einen Unterschied zwischen einer amerikanischen Beteiligung an der britischen Kriegsvorbereitung und einer probritischen Parteinahme zu treffen.

Fraglos lagen den USA vielerlei Alternativen während des Ersten Weltkrieges vor, die ihnen gestattet hätten, ihre Machtstellung zu bewahren, ohne gegen die Mittelmächte Streitkräfte einzusetzen. Die amerikanische Regierung war in der Lage als Vermittler Frieden zu stiften, eine Aussicht, die die Engländer mehr als die Deutschen und Österreicher entschwinden ließen. Auch ein verhandelter Sieg zugunsten der Mittelmächte hätte die USA kaum in die Knie gezwungen. Sie hätten als Weltmacht der Zukunft glänzend dagestanden, egal welche Seite in Europa das abreibende Kriegshandeln besser durchstanden hätte.

Englische Kriegspropaganda äußerst effektiv

Wie die herrschende Klasse eingestellt war, sei aber in Blick zu nehmen. Das engagierte Morgan Bankenhaus lancierte an die Briten haushohe Anleihen, während die amerikanischen Munitionsindustriellen den Alliierten möglichst oft Waffenlieferungen zuführten. Aber das traf sich schwerlich von ungefähr. Die Beteiligten haben dergestalt gehandelt, weil sie der antideutschen oder probritischen Seite zugeneigt waren. Zu diesem Schluss muss man gelangen, ohne die Mittelmächte als die moralisch tadelnswertere Seite zu behandeln.

Ebenso sachdienlich war es, dass die Engländer mit ihrer Kriegspropaganda tüchtiger als die Deutschen  hantierten. Gemeinsame Sprache, sinniger Nutzen des transatlantischen Telegrafendrahts, und das Können, die Befindlichkeit von amerikanischen Eliten wirkmächtig anzusprechen und zweckmäßig zu gestalten, fielen den englischen Werbemachern als unerschöpfliche Vorteile zu. Das bedeutet keineswegs, den Kriegskurs der amerikanischen Regierung zu rechtfertigen. Man strebt dahin darzulegen, warum die amerikanische Kriegsbeteiligung geschah. Und auf keine Verschwörung muss man hinweisen, um diesen Drang zur Kriegsintervention zu verstehen.

Mit den Engländern war es anders gelagert. Da schaffte es eine umtriebige Kabinettskabale die Gemüter auf dem Kontinent zu erhitzen. Roewers Behandlung der amerikanischen Entwicklungsgeschichte bis auf den amerikanischen Eintritt im Ersten Weltkrieg steht deshalb qualitativ hinter seiner Darstellung der englischen Kabinettsränke zurück. Im letzteren Fall beschränkt er seine Untersuchung auf die tatsächlichen Kriegstreiber, ohne, wie Fritz Fischer es mit den Deutschen tat, eine ganze Nation herabzuwürdigen. Bei den Engländern unterscheidet Roewer zwischen den Schuldigen und den Übrigen, die übertölpelt und belogen wurden. Bei den Amerikanern dagegen geht er mit den Unschuldigen nicht so achtsam um.

Helmut Roewer: Unterwegs zur Weltherrschaft. Warum England den Ersten Weltkrieg auslöste und Amerika ihn gewann. Scidinge Hall, 363 Seiten, 24,95 Euro, Zürich 2016.

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