Dimitrios Kisoudis, auch bereits Autor für Recherche D, hat einen sehr interessanten Essay über Mitteleuropa geschrieben. Volker Zierke und Philip Stein haben das Büchlein im Jungeuropa-Podcast besprochen. Auch wir müssen dazu einige Notizen zu Papier bringen, denn der Ansatz fordert Kritik und Widerspruch heraus:
1. Friedrich List (1789-1846), von uns in Recherche D, Heft 2, portraitiert, eignet sich nicht als Vordenker der Mitteleuropa-Idee. Kisoudis rennt mit List im Gepäck in die Globalismus-Falle. Friedrich List überschätzte „beharrlich die Möglichkeiten des Staates“, konstatierte sein Biograph William Henderson zutreffend. Das Endziel des ewigen Wachstums der Wirtschaft und des Zusammenwachsens der Staaten war der „Eintritt in die künftige Universalgesellschaft“, so Friedrich List wortwörtlich. Als Entwicklungsökonom für junge Industrien und Vordenker eines gesunden Protektionismus ist uns List sehr wichtig. Seine politischen Vorstellungen müssen jedoch im Nachhinein zurückgewiesen werden. Die deutsche Zusammenarbeit mit Österreich und Ungarn sollte nur den Auftakt zu einer globalen Ausdehnung bilden. Das weisen wir ebenso entschieden zurück wie seine Auswanderungspläne für 500.000 Deutsche, die er in Ungarn ansiedeln wollte. Patriotische Politik will das eigene Volk im eigenen Land halten.
2. Kisoudis skizziert ein Mitteleuropa, das in Konkurrenz zu Polen tritt, da Polen amerikahörig geworden ist. Dieses Gegeneinander der europäischen Nationen mag historisch plausibel sein. Man wird selbst mit Geistesgrößen wie Thomas Mann viele Gründe finden, warum die Deutschen von ihrem Wesen her komplett anders als die Franzosen, die Polen et cetera sind. Das alles führt aber in die weltpolitische Selbstverzwergung. Unsere Konkurrenten sind die USA, China, Indien und – ja – leider häufig auch Rußland. In dieser Konstellation hat Europa nur eine Chance, wenn es gemeinsam auftritt und sich nicht spalten läßt. Wir brauchen das ganze Europa, um uns von Amerika emanzipieren zu können (weiterführend dazu: Recherche D, Heft 18, Dr. Wulf Wagner über das konservative Europa).
3. Philip Stein und Felix Menzel haben vor fast zehn Jahren den Aufschlag für ein Junges Europa gemacht. Die Schrift ist leider bei uns ausverkauft, aber wir werden einen Aufsatz aus dem Büchlein über die Europa-Konzeption des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset (1883-1955) leicht modiziert in der nächsten Ausgabe von Recherche D erneut veröffentlichen. So viel vorweg: Ortega y Gasset war der Meinung, jede Nation könne nur lebendig bleiben, wenn sie einen Lebensplan für die Zukunft hat. Dieser Lebensplan hält geistig jung. Er läßt sich jedoch nur verwirklichen, wenn es uns gelingt, alte, innereuropäische Konflikte zu überwinden.
4. Wie ist das nun mit Rußland? Kisoudis hätte dazu die Erkenntnisse von Johannes Barnick (1916-1987) beherzigen sollen. Neutralität ist für eine große Nation in der Mitte Europas keine generelle Option. Sie ist aber ein kluges strategisches Mittel, um Nachbarsnachbarschaften zu pflegen. „Daß man dem Nachbarn des Nachbarn ein Freund sein möge, ist ein uralter, vom staatsmännischen Bewußtsein aller großen politischen Zeiten einstimmig erteilter Rat“, führt Barnick aus. Es sei folglich das gemeinsame geopolitische Projekt von Deutschland und Rußland, den „Teufelsgürtel Europas“ (= Osteuropa bis Balkan) zu befrieden. Neutral dürfe dabei allerdings nicht mit „indifferent“ verwechselt werden.
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