Als ich mich für meine Bachelorarbeit mit Hermann Heller auseinandersetzte, mußte ich „Sozialismus und Nation“ in der Originalausgabe lesen. Ein völlig zerfleddertes Heft. Die Zeit hatte jenes billige Papier, an dem man in der Weimarer Republik gedruckte Bücher erkennt, weitgehend zernagt. Es zu verleihen war eine Fahrlässigkeit der Universitätsbibliothek. Die kürzlich erfolgte Neuauflage durch den Jungeuropa Verlag ist schon deshalb erfreulich.
Schwieriger dürfte es werden, den Inhalt des Buches vor der Vergessenheit zu bewahren, denn eine fruchtbare Befassung gerade mit diesem Teil von Hellers Werk (zuvörderst war Heller Staatsrechtler und Autor einer beachtlichen Staatslehre) erfordert einige Vertrautheit mit der Zeit, in der Heller schrieb. Thor von Waldstein gelingt es zwar in seiner für die Neuausgabe verfaßten Vorrede Heller in die deutsche Geistestradition des 19. Jahrhunderts einzuordnen, doch das frühe 20. kommt zu kurz.
Das Veraltete ist das Aktuellste
Denn es kann bei der Lektüre von Sozialismus und Nation nicht darum gehen, wie die Phrase lautet, „dem Zeitverhafteten das Ewiggültige zu entnehmen“. Schon deshalb nicht, weil dieses Buch kein Kochrezept ist und wer es aufschlägt, um Lösungsvorschläge für nationale und soziale Fragen zu finden, die man in ein Programm übernehmen könnte, wird selbst für die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts enttäuscht werden und für die des 21. Jahrhunderts erst recht.
Jenseits seines Wertes als historische Quelle wird dieses Buch erst interessant, wenn man die Wandlungen nachvollzieht, die sich seither vollzogen haben. In dieser historischen Betrachtung ist das Veraltete an einem Werk meist das Aktuellste, weil erst in diesem Kontrast die eigene Lage sichtbar wird.
Klassenkampf in die Nation hinein
Zu Hellers Zeiten war der Graben zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, gemäß dem marxistischen Begriff der Klasse, den Heller trotz aller Kritik an Marx als selbstverständlich verwendet, eine politische Tatsache ersten Ranges. Dies selbst dann, wenn jemand objektiv bewiesen hätte, daß dieser Trennung eigentlich die materielle Grundlage fehlte und sie nur ein Produkt sozialistischer Agitation gewesen wäre.
Heller, der 1919 mit dem Vorbehalt in die SPD eingetreten war, daß er mit großen Teilen des Programms nicht einverstanden sei, wollte den Kampf der Arbeiterklasse zu einem Kampf „in die Nation hinein“ machen. Damit wandte er sich vor allem gegen jene marxistische Argumentation, daß der Arbeiter vaterlandslos sei. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage sei er, so der dogmatische Marxismus, nicht nur vom Wohlstand, sondern auch von der Kultur seiner Nation ausgeschlossen. Seine Loyalität gelte der Internationale. Sein Ziel sei die sozialistische Weltrepublik.
Heller wollte hingegen den Klassenkampf um die Nation führen. Um die Beteiligung der Arbeiterklasse an der Nation, das heißt gegen den damals bestehenden Anspruch des Bürgertums alleiniger Repräsentant der Nation zu sein, dessen Kultur die Nationalkultur und dessen Wirtschaftsinteresse das Nationalinteresse sei.
Was Heller als Idealzustand vorschwebte, hatte viel mit dem gemeinsam, was heute unter der Bezeichnung „solidarischer Patriotismus“ firmiert und bei weitem nicht nur in den Ostverbänden der AfD an Bedeutung gewinnt.
„Somewheres“ und „Anywheres“ sind keine Klassen
Die völlig unterschiedliche Lage liegt jedoch deutlich auf der Hand. Um die von David Goodhart stammende und in Deutschland durch Alexander Gauland verbreitete Einteilung zu gebrauchen: Weder die lokal und national gebundenen „Somewheres“, noch die kosmopolitischen „Anywheres“ sind Klassen im Sinne Marxens und damit auch Hellers. Ihr wesentliches Unterscheidungsmerkmal besteht nicht in unterschiedlichem Zugriff auf Produktionsmittel oder auch Bildung. Das Kosmopolitentum der Unterschicht äußert sich in Gangsta-Rap und McDonalds, ist aber nicht weniger echt, als das der oberen Klassen. „Somewhere oder Anywhere“ – das ist vielmehr eine Frage der persönlichen Einstellung, als „Arbeiter oder Bürger“.
Auch beanspruchen die politisch wie gesellschaftlich dominanten Anywheres gerade nicht, die Nation zu repräsentieren, vielmehr sie zu überwinden. Sie erklären sich heute mit demselben Stolz für vaterlandslos, wie ein Marxist des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei sieht sich der linke Teil des herrschenden Linksliberalismus weiterhin in der internationalistischen Traditionslinie, gegen die Heller gekämpft hat.
Obwohl sich Heller, der 1933 im Exil starb, zu Lebzeiten nicht durchsetzen konnte, erhielt er posthum recht: Die Lösung der Arbeiterfrage bestand in ihrer Integration durch den Nationalstaat. Am Ende erwies es sich dafür als gleichgültig, wer in einem Land an der Macht war. Wir Heutigen leben in einer Zeit, in der dieses Modell wieder fundamental in Frage gestellt ist.
Hermann Heller: Sozialismus und Nation. Mit einer Vorrede von Thor von Waldstein. Dresden 2019. 148 Seiten, gebunden 16,00 Euro. Hier bestellen.
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