Gesichtet

Politiker, Moral und Sex

Nebst Spionage ist der Sexskandal der politische Skandal schlechthin. Zumindest was die USA anbelangt.

Bei uns gibt es den Sexskandal so eigentlich nicht. Was der Politiker mit wem und wie alles so treibt, ist kein Politikum, solange er damit seinen politischen Auftrag nicht kompromittiert. Auch hinsichtlich des Geschmacks sind wir Europäer nicht zimperlich: Was als guter bzw. schlechter Geschmack bezüglich Sexualpraktiken und -partner, Angewohnheiten und Vorlieben gilt, liegt bei uns wesentlich im Auge des, noch dazu beteiligten, Betrachters, d.h. ist wesentlich subjektiv.

Unabhängig davon ist einen schlechten Geschmack zu haben immer noch ein individuelles Recht, denn niemand kann einem vorschreiben, was ein guter, was ein schlechter Geschmack ist. Wie überall im Leben, so auch im Sexleben.

Sex ist eine Geschmacksfrage in Europa

Im Gegensatz zu den Amerikanern fällt für uns Europäer die Person – von griechisch prosopon, Maske – des Politikers in „Ruf“ und  „Schicklichkeit“ auseinander. Nach der Moral, noch viel weniger nach der Sexualmoral, wird normalerweise nicht gefragt. Es ist sogar eine Sache des Anstands, d.h. der eigenen Schicklichkeit, vom Sexleben des Politikers abzusehen.

Freude am Perversen und Obszönen gibt es dennoch auch bei uns: Dass Prinz Charles seiner Camilla zuhaucht, wie gern er doch ihr Tampon wär´, oder ein britisches Parlamentsmitglied eine absonderliche Vorliebe für den Nagelschnitt junger Mädchen hat, das zu wissen, verschafft vielen Menschen höchste Genüsse, auch bei uns in Europa. Relativ skandalös sind dabei nur die pikanten bis widerlichen Details, die aber deswegen noch lange kein Politikum „an sich“ darstellen. Das ist in den USA anders.

Amerikanische Moral und Heiligkeit

Es gibt in den USA eine spezifische Form der Sympathie puritanischen Ursprungs, die like-mindedness, die vom Politiker eine höhere Moral abverlangt als von einem selbst, und damit von der eigenen Moral, die in den USA immer auch ein Schattenbild der öffentlichen Moral ist, zur Doppelmoral wird. Die weltliche Heiligkeit des Pilgervaters treibt also immer noch ihr Unwesen, und zwar in Form der überindividuellen Perfektion des amerikanischen Gemeingeists.

Die Kehrseite aller überindividuellen Perfektion liegt dabei in dieser ihrer Eigenschaft als moralischem Maßstab zu fungieren. Aufgrund dessen kann jeder Amerikaner in die peinliche Situation geraten, sich und anderen eines Tages darüber Rechenschaft abgeben zu müssen, was er mit wem und wie alles so „getrieben“ hat. Diesseitige Heiligkeit und eigene Sündhaftigkeit geben sich in Amerika die Hand und, pragmatisch besehen, ist die sich daraus ergebende Scheinheiligkeit Heiligkeit, weil sie sozial wirksam und folgenreich ist.

Europäisches böses Gewissen und Sexualzynismus

Im Gegensatz dazu hat bei uns in Europa nur das Bewusstsein für die Zweischneidigkeit des moralischen Schwerts die Schärfe, die dieses in den USA besitzt. Zu gut wissen wir, dass sich für das Sexleben anderer – und zu den Anderen gehören auch die Politiker – interessieren unvermeidlich mit sich bringt, sich selbst und diesen Anderen eines Tages die Blöße diesbezüglich geben zu müssen.

In Europa, selbst in den einzelnen Nationalstaaten, haben wir keinen Gemeingeist, kein Wir (we), welches, als der bessere, perfekte überindividuelle Teil unseres Selbst (our self), uns ein moralisches Gewissen verschaffte, reiner und makelloser als unser echter empirischer Lebenswandel.

Über uns schwebt kein Heiliger bzw. kein Heiliges, das wir sein sollen und wollen und, als überindividuelles Kollektiv, auch tatsächlich sind. Stattdessen haben wir – und zwar jeder einzelne von uns – ein höchst individuelles böses Gewissen, welches uns frei macht von jeglicher Heiligkeit sowie den ihm vorauseilenden Spukgespenstern, dem Pilgervater und, vor ihm, dem alttestamentarischen Stammvater und Richter, dessen Lieblingsurteil da immer noch lautet: „Hinrichten! Steinigen!“ Freilich sind wir im Gegenzug dazu zynisch, vor allem was die Sexualität betrifft – siehe den von Sloterdijk geschilderten Sexualzynismus.

Potentiell ist in den USA jeder dazu aufgerufen, zu steinigen

Weil die ganze Gesellschaft richtet und steinigt, ist es in den USA auch keine Pflichtvergessenheit sondern geradezu Erfüllung der höchsten Pflicht, wenn der Richter das Gerichtsurteil mit Werturteilen garniert und mit der ihm eigenen Moralkeule auf den Rechtsbrecher einprügelt.

Überhaupt wird in den USA gerichtet und gesteinig im Sinne des we. Deshalb ist es auch nicht weiter tragisch, dass dessen ausführende Gewalten alles andere denn menschlich vollkommen sind. In Amerika ist der Steiniger als Agent des we eine soziale Notwendigkeit und Einrichtung, weshalb ihm niemand eine sittlich-moralische Perfektion abverlangt, die er „an sich“, als Mensch, nicht haben kann. So ist jeder in den USA dazu aufgerufen, als Agent des we aufzutreten, um in dieser Funktion hinzurichten, was das Zeug hält. Und das nicht immer nur metaphorisch.

Der lynchende Ami ist „von keiner Schule“

Das Wirken dieser zu Agenten des we Berufenen – wer Die Simpsons gesehen hat, dem wird der wiederkehrende Lynchmob längst aufgefallen sein – trägt entscheidend zur Moralisierung und damit Radikalisierung von Politik und Gesellschaft bei. Die den Amerikanern angemessene Form der Justiz ist tatsächlich immer noch die Lynchjustiz.

Nur tritt sie heute in verhüllter und vermittelter Form auf, Aufgebot und Mob sind passé. Diese plump-naive und sogar primitive (radikale) Auffassung von Justiz – der Amerikaner versteht darunter tatsächlich Gerechtigkeit, wenn auch die ausgleichend-entgeltende, das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ des Alten Testamens – erscheint verwerflicher als das unserem Justizverständnis zu Grunde liegende böse Gewissen: Wir wissen es besser als die Amerikaner, weil wir durch ganz andere Schulen als sie, überhaupt durch Schulen, durchgegangen sind, allen voran die Schule der Aufklärung.

Wir sind tolerant dank Jesus, Liberalismus und Machiavelli

Offenbar haben die Amis auch von Jesus weniger Wind bekommen als selbst unsere ärgsten Verächter des Christentums. Sogar diese halten es mehr mit dem Verzeihen als mit dem Richten. Dann noch haben wir Europäer Verständnis für menschliche = unsere eigenen Schwächen, weil wir sie nicht mehr als Schwächen, sondern, wie jeden Irrtum, als etwas Menschliches, Allzumenschliches ansehen.

Unter diesem Gesichtspunkt des Menschlichen, Allzumenschlichen gibt es auch keine Sünde mehr. Überhaupt begreifen wir Schwächen nicht mehr mit dem religiösen Vorurteil als Einbruchsstelle für die den Menschen verderbende Lasterhaftigkeit und Sünde, sondern als etwas, was ihn wesentlich ausmacht: „Der Mensch ist schwach, gibt seinen Leidenschaften nach. Und der Politiker ist schließlich auch nur ein Mensch.“

Das ist nicht mehr Jesus, sondern Liberalismus. Abgesehen von Liberalismus ist bei uns noch eine Anschauung aus der späten römischen Republik wirksam, aufgefrischt von keinem Geringeren als Machiavelli, welche großzügig von der privaten Lasterhaftigkeit absieht, solange man sich zumindest öffentlich für virtuos erweist.

Die Virtuosität des Politikers muss echt sein

Der Hinweis auf Machiavelli darf hier nicht den Eindruck erwecken, die politische Tugend des Politikers, seine virtu, sei Blendwerk. Der Politiker hat in seiner öffentlichen Funktion wirklich virtuos zu sein. Hingegen der Schein privater Tadellosigkeit und Tugendhaftigkeit dient nur dazu, der Verächtlichkeit, die sich aus einem eventuellen Bekanntwerden der Laster ergäbe, zu entgehen.

Der Politiker kann nämlich in seiner öffentlichen Funktion noch so virtuos sein. Ist sein Privatleben, vor allem sein Sexleben, über Maß schändlich und verächtlich, ist er politisch nicht mehr zu tragen. Heutzutage ist vor allem im nördlicheren Europa der Ruf eines des Sextourismus überführten Politikers ruiniert. Damit das ja nicht geschehe, muss es etwas geben, was der Möglichkeit des Verrufs entgegenwirkt.

Grenzen und Grenzverschiebungen in Europa

Unter dem Vorwand des Anstands ist über Jahrzehnte ein Tabu errichtet worden, unsere Politiker zu beschützen sowie zu entlasten. Es soll sich nämlich in Grenzen halten, dass sie sich gegenseitig wegen ihrer – echten oder vermeinlichen – sexuellen Praktiken, Vorlieben, Angwohnheiten und Partner bespitzeln. Einzige Voraussetzung ist, die Abartigkeit und Lasterhaftigkeit der Politiker hält sich in für die Gesellschaft erträglichen Grenzen, d.h. sie muss bei genügend Menschen noch auf Duldung und Verständnis stoßen können.

Die Menschen müssen weiterhin sagen können: „Der Politiker ist auch nur ein Mensch.“ Das zu erreichen ist ein Grund, weshalb die Politiker in Europa aktiv die gesellschaftliche Trennung von Sex und Moral betrieben haben, ja, dieselbe Gesellschaft zersetzt haben, indem sie die Schraubmutter des Erträglichen weit nach oben, die des Unerträglichen hingegen weit nach unten schraubten, überhaupt Sorge dafür trugen, dass die Menschen zunehmend liederlich in sexuellen Dingen würden.

„Sexpolitik“

Nicht von ungefähr ist „Sexualität“ zum festen Bestandteil moderner politischer Öffentlichkeitsarbeit geworden, besser: dazu gemacht worden. Es gibt fast nichts, was so abartig wäre, dass ein europäischer Politiker es nicht massefähig machen könnte. Die Begeisterungsfähigkeit medial genau so erregter wie betäubter Massen für sexuelle Innovationen und Revolutionen ist unbegrenzt.

Mit diesen Massen schafft sich der Politiker ein Medium, in dem er sich für nichts mehr zu schämen braucht. Steht Sex in Europa politisch so ziemlich außer Frage, so steht im Gegensatz dazu Sexpolitik fest auf der Tagesordnung. Die Politisierung des Sexuellen ist den Menschen in Europa –  zugegeben, zur Freude vieler – im Gleichschritt mit einer allgemeinen Sexualisierung regelrecht untergejubelt worden. Was für die Unbedarften „einfach nur Sex“ war, ist eben doch Politik gewesen.

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